Ich habe über ein Jahr lang für eine österreichische Marketing-Agentur gearbeitet, die im Auftrag von Unternehmen Artikel auf Wikipedia erstellt und bearbeitet. Von kleinen Start-ups bis hin zu multinationalen Konzernen wollen Firmen auf Wikipedia vertreten sein und dabei auch die Kontrolle darüber haben, welche Informationen über sie in welchem Kontext dargestellt werden.
Für den läppischen Betrag von bis zu 4.000 Euro pro Artikel war meine Agentur dabei gerne behilflich. Ich meine, wer interessiert sich schon für Ethik-Kodizes in der PR-Branche, richtig? Mit der Absicht, das zu ändern, möchte ich hiermit die Praxis der professionellen Wikipedia-Manipulation in Österreich offenlegen.
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Warum Unternehmen überhaupt scharf auf Wikipedia sind, ist leicht erklärt. Mit zirka 34 Millionen Artikeln in über 280 Sprachen ist Wikipedia nicht nur die größte Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte, sondern auch die meistgenutzte: Im Durchschnitt werden 20 Milliarden Mal pro Monat Wikipedia-Inhalte abgerufen. Wenn du ein Unternehmen googlest, scheint der Wikipedia-Eintrag meist unter den ersten zehn Suchergebnissen auf. Unternehmen sehen Wikipedia als „digitale Visitenkarte“. Entsprechend wollen sie deren Ruf als „neutrale Informationsquelle”, die nicht als Werbung empfunden werde, für sich nutzen. Für sie stellt die Wikipedia eine ideale Plattform zur Imagepflege und Kundenansprache dar.
Den meisten Firmen fehlt aber das nötige Wissen im Umgang mit der Autoren-Community, um selbst einen Artikel zu erstellen. Wer seinen Artikel weder entsprechend der strengen Vorgaben aufbaut und formatiert, noch die Relevanz des Themas hervorzuheben vermag, hat schnell einen Löschantrag am Hals. Wenn der Artikel einmal gelöscht ist, wird es noch schwerer, erneut einen Beitrag zum selben Thema anzulegen.
Meine ehemalige Agentur verspricht unseren Kunden hingegen eine schnelle, professionelle Erstellung oder Überarbeitung des gewünschten Artikels, egal in welcher Sprache, mit sofortiger Freigabe und langfristigem Bestand. Wobei, um ehrlich zu sein, das Wort „langfristig” mehr Marketing-Bla als seriöse Einschätzung ist, da Artikel nie vor Änderungen durch andere Autoren sicher sind. Aber das muss der Kunde ja nicht wissen.
Vielleicht denkt ihr jetzt, Wikipedia ist doch ein offenes, kollaboratives Projekt, in dem jeder Interessierte Artikel erstellen und bearbeiten kann. Vielleicht fragt ihr euch, wozu eine Firma viel Geld in den Rachen einer Marketing-Agentur werfen sollte, wenn sie das auch selbst erledigen kann.
Ganz einfach: Erstens bekämpfen Wikipedia-Admins und selbsternannte PR-Jäger unter den Autoren verbissen jede Art von Werbung oder Propaganda. Zweitens stehen anonyme Bearbeitungen von vornherein unter Generalverdacht, Vandalismus oder Werbung zu sein, und werden erst nach Freigabe durch einen sogenannten aktiven Sichter wirksam. Daher landen Bearbeitungen durch naive Firmen- oder Partei-Mitarbeiter meist sofort im digitalen Mistkübel.
Zwei Beispiele: Der Wikipedia-Artikel über Bundeskanzler Werner Faymann wurde am 1. Juli 2014 von einem anonymen Benutzer bearbeitet. Die darin versuchte Relativierung des für Faymann nachteiligen Ergebnisses der Wehrpflicht-Volksbefragung wurde bereits nach vier Stunden wieder rückgängig gemacht. Ähnlich war es auch bei der Bearbeitung des Wikipedia-Artikels der Agrana Beteiligungs-AG durch den Account „Agrana“. Der am 29. August 2011 eingefügte umfassende Text wurde noch am selben Tag von einem Admin mit der Begründung „Wir sind keine Werbeplattform” wieder entfernt.
In meiner ehemaligen Agentur waren wir nicht auf andere Wikipedia-Autoren für die Freigabe unserer Bearbeitungen angewiesen. Unser Erfolgsgeheimnis war eine Horde von Sockenpuppen. In meinem Team war ich am Aufbau und der Pflege von etwa 20 Sockenpuppen—also zusätzlicher Benutzerkonten derselben Person oder Organisation—beteiligt. Und es ist verdammt einfach.
Bei der Registrierung eines neuen Benutzerkontos reicht die Angabe von Benutzername und Passwort. Du musst nicht mal eine fake E-Mail-Adresse für den Account anlegen, wobei das auch keine Hürde wäre. Danach verbringst du ein paar Wochen damit, unverdächtige Bearbeitungen in bestehenden Artikeln vorzunehmen: Fehlende Kommas setzen, Rechtschreibfehler korrigieren, Begriffe verlinken, und so weiter. Wikipedia stellt sogar eigene Tools zur Verfügung, mit denen du noch schneller fehlerhafte Artikel aufspüren kannst (wie großzügig!).
Nach frühestens 30 Tagen und der Erfüllung gewisser Kriterien wird deinem Account automatisch der Status „Passiver Sichter” verliehen. Ab sofort werden all deine Bearbeitungen und neu erstellten Artikel automatisch freigegeben—ohne, dass dir ein nerviger Admin dazwischenfunken kann. Quasi ein Blankoscheck zur Manipulation. Natürlich darf man dabei nicht plump vorgehen: Wer einfach umfassende PR-Texte in Artikel kopiert oder kritische Absätze mit einem Schlag löscht, wird schnell die Aufmerksamkeit der Wikipedia-Admins auf sich ziehen.
Daher haben wir in der Agentur stets Bearbeitungen für Unternehmen schrittweise über einen längeren Zeitraum vorgenommen und dabei unsere Benutzerkonten abwechselnd verwendet. Dieses virtuelle Ping-Pong-Spiel erweckt den Eindruck einer authentischen, kollaborativen Weiterentwicklung des Artikels, inklusive absichtlich eingebauter Rechtschreibfehler und Umformulierungen von Absätzen. Damit einem Wikipedia nicht auf die Schliche kommt, verwendet man einfach verschiedene VPN-Server oder billige Internet-Sticks, um die IP-Adresse zu verschleiern.
Die Methode ist natürlich nicht perfekt. Hin und wieder funkt dir ein Admin dazwischen, weil deine Formulierungen nicht neutral genug seien oder gewisse Inhalte den „enzyklopädischen Rahmen” sprengen würden. Meistens lässt sich ein Kompromiss finden. Manchmal wurde ein von uns angelegter Artikel wieder gelöscht—meistens bei solchen über kleine Start-ups, deren Relevanz (Stichwort: „ innovative Vorreiterrolle“) von Anfang an auf wackeligen Beinen stand.
Aber das waren Ausnahmen. Generell gingen die automatisch gesichteten Bearbeitungen unserer Sockenpuppen im digitalen Rauschen unter: Allein die mehr als 1,8 Millionen Artikel der deutschsprachigen Wikipedia werden im Durchschnitt 50 Mal im Monat bearbeitet. Täglich kommen etwa 300 neue Artikel dazu. Dieser Datenflut stehen nur 250 ehrenamtliche Admins gegenüber, die nicht die nötige Zeit und Ressourcen haben, alle Bearbeitungen zu kontrollieren. Darüber hinaus sollen sich hinter einigen Administratoren selbst bezahlte Schreiber verstecken.
Was kann die Wikipedia gegen diese perfide Unterwanderung durch PR- und Marketing-Agenturen tun? Das Problem ist allen bewusst und wurde auch bereits in der Studie „ Verdeckte PR in Wikipedia” der Otto-Brenner-Stiftung wissenschaftlich beleuchtet. Zuletzt sperrte Wikipedia im Oktober 2013 mehr als 250 Benutzerkonten bezahlter PR-Autoren. Für die Benutzerkonten von Organisationen und bezahlten Autoren besteht an sich eine Offenlegungspflicht.
Das Geschäft mit Wikipedia wird auch weiterhin für PR- und Marketing-Agenturen lukrativ bleiben.
Dazu muss der Account über eine offizielle E-Mail-Adresse verifiziert werden. Dass Firmen damit erfolgreich auf Wikipedia mitarbeiten können, zeigt etwa der verifizierte Account von bet-at-home.com, mit dem seit Juli 2011 der Bet-at-home.com-Artikel in mehreren Sprachen regelmäßig aktualisiert wird. Mittlerweile gibt es über 3.600 solcher verifizierter Benutzerkonten. Naturgemäß stehen diese Accounts unter strengerer Beobachtung, wodurch es fast unmöglich wird, Kritik aus Artikeln zu entfernen oder selbstgefällige Werbetexte einzuschmuggeln. Ein Teil der Wikipedia-Community lehnt bezahlte Bearbeitungen grundsätzlich ab fordert unter anderem den Entzug der Sichterrechte für „weisungs- und auftragsgebundene Mitarbeiter”.
Das Geschäft mit Wikipedia wird daher auch weiterhin für PR- und Marketing-Agenturen lukrativ bleiben. Würde es etwas helfen, die Auftraggeber öffentlich anzuprangern? Vielleicht. Da mir aber eine Konventionalstrafe in der Höhe von mehreren Tausend Euro droht, wenn ich meine ehemalige Agentur und ihre Kunden verrate, werde ich einen Teufel tun.
Es würde auch nichts bringen: Solange Wikipedia derart stark genutzt wird und ein hohes Vertrauen genießt, werden Firmen und Parteien weiterhin alles daran setzen, auf die Plattform Einfluss zu nehmen. Die Unterwanderung durch politische und wirtschaftliche Interessen könnte der Online-Enzyklopädie aber langfristig ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Existenz kosten. Woher sollen sich dann pubertätsgeplagte Schüler ihre Referate zusammenkopieren? Wer wird uns auf die Schnelle unnütze aber irgendwie geniale lateinische Phrasen? Also, lasst uns etwas dagegen tun: Hört auf, die Wikipedia wie ignorante Blutegel auszusaugen, und werdet selbst zu aktiven PR-Jägern.