Ein Mann im Arztkittel von hinten, er schaut auf viele wütende Gesichter
Illustration: Russlan  
Menschen

Der Nächste bitte

Der HIV-Arzt Dr. Heiko J. soll Patienten missbraucht haben. Seit Jahren wissen Beratungsstellen und Staatsanwaltschaft Bescheid. Warum darf er bis heute praktizieren?

Dieser Text erschien zuerst am 7. September 2019. Wegen einer rechtlichen Auseinandersetzung war der Text rund 19 Monate lang offline. Nach einem Urteil des Kammergerichts Berlin ist er nun in leicht gekürzter Fassung wieder verfügbar.

Im Büro der Berliner Schwulenberatung sitzen drei Männer, die beschlossen haben auszupacken. In den folgenden anderthalb Stunden werden sie alles erzählen, was sie seit Jahren über Dr. Heiko J. wissen. Über einen Arzt, der mutmaßlich seine Patienten missbraucht.

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Etliche andere Beratungsstellen und Behörden wollen, können oder dürfen laut eigenen Angaben nicht mit uns sprechen. Aber die Männer in der Schwulenberatung sagen: Es reicht. Sie sagen, Mitarbeiter der Beratungsstelle seien bei der Ärztekammer gewesen, im Gespräch mit anderen HIV-Organisationen und sogar in der Praxis J. selbst, um den Arzt mit den Vorwürfen gegen ihn zu konfrontieren. Doch gebracht hat das offenbar wenig.

Einer dieser drei Männer ist ein langjähriger Mitarbeiter, ein anderer eine hochrangige Leitungsperson. Seit 25 Jahren gibt es die Praxis J. und seit vielen Jahren, erzählen sie, würden Klienten der Schwulenberatung von sexuellen Übergriffen berichten.

Die drei Mitarbeiter wollen, dass endlich etwas passiert. Sie wollen, dass der Arzt mit den mutmaßlichen Übergriffen aufhört. Sie wollen, dass diese Geschichte an die Öffentlichkeit kommt.

Hinter verschlossener Tür

VICE und BuzzFeed News haben Heiko J. mit einem umfangreichen Fragenkatalog konfrontiert, den er nicht beantwortet hat. Über seinen Rechtsanwalt lässt er mitteilen, er könne aus den Schilderungen keinen konkreten Patienten erkennen, "unbeschadet der Tatsache, daß diese Schilderungen unzutreffend sein müssen". Heiko J. lasse sich nicht von wirtschaftlichen oder rassischen Gesichtspunkten bei der Behandlung, deren Geschwindigkeit oder deren Ausstattung leiten. Er richte die Behandlung seiner Patienten zudem nicht nach eigenen Vorlieben aus.

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VICE und BuzzFeed News haben in den vergangenen Wochen mit etlichen Menschen gesprochen, die dem Arzt sexualisierte Gewalt vorwerfen. Es geht um übergriffige Kommentare über die Genitalien der Patienten, um Kussversuche, um anale Penetration. Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, sagen: Eine medizinische Notwendigkeit gab es dafür nicht. Am gestrigen Freitag haben wir die umfangreichen Vorwürfe gegen Dr. Heiko J. erstmals öffentlich gemacht. Seit Jahren wissen hunderte, vielleicht sogar tausende Menschen in Berlin von diesen Vorwürfen.

Auf Facebook schreibt ein mutmaßlicher Betroffener: "It's Berlin's worst kept secret."

Trotzdem hat niemand Heiko J. gestoppt. Wie kann das sein?

Die Suche nach einer Antwort führt zu einer Geschichte über Angst und Mut, über Stigma und Macht, über Behörden und Beratungsstellen.

Die Aids-Aktivisten-Gruppe Act up protestiert in Berlin

Protest von Aids-Aktivisten 1989 in West-Berlin | Foto: imago | Michael Hughes

Frühe 90er Jahre, Berlin: Aids und HIV sind lebensbedrohlich und stigmatisiert. Der Spiegel titelt in dieser Zeit über "Das große Sterben" und die "Aids-Angst". Die HIV-Prävention per Pille, die PrEP, gibt es noch nicht. 1993 tagt der Internationale Aids-Kongress in der Stadt und hinterlässt wenig Hoffnung, dass die Epidemie noch eingedämmt werden kann. Der Paragraf 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, wird erst ein Jahr später vollständig abgeschafft, Lebenspartnerschaften und das Recht zu Heiraten sind für Homosexuelle weit entfernt.

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In Europas ältestem Schwulenkiez im Berliner Westen eröffnet Heiko J. in dieser Zeit seine Praxis. Sie erstreckt sich über zwei Altbauetagen und findet schnell ihr Publikum. Schon wenige Jahre nach der Öffnung behandelt J. laut eines Medienberichts 400 Aids-Patienten. Im Oktober 1994 initiiert er die Gründung eines Vereins, um Geld für Aids-Projekte zu sammeln, der Verein organisiert Benefiz-Wochen an Theatern und in Berliner Clubs.

Während sich J. einen Ruf als HIV-Spezialist und Wohltäter aufbaut, erhalten Aids-Aktivisten bereits Informationen darüber, dass er Patienten gegenüber übergriffig werde. Sie sprechen im Rückblick von "sexuellen Grenzverletzungen", von Patienten, die sich hätten ausziehen müssen, "ohne dass es notwendig gewesen wäre" und von unnötigen "Genital- und Analuntersuchungen" bei HIV-Patienten.

Aids-Aktivisten sagen, sie kennen die Vorwürfe seit den 90er Jahren

Anfang der 1990er Jahre gründen rund ein Dutzend Berliner Aids-Projekte einen eigenen Landesverband, den LABAS. Mitglieder sind unter anderem die Berliner Aidshilfe, die Schwulenberatung und die Prostituiertenvertretung Hydra. Die Gruppen sammeln schon in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Vorwürfe gegen Heiko J. – in einem Arbeitskreis des Verbandes, der sich mit der medizinischen Versorgung HIV-positiver Menschen beschäftigt. Das bestätigen uns zwei Teilnehmer des Arbeitskreises. "Jede Beratungsstelle hatte Fälle von ihm", sagt einer der beiden. "Ich alleine in meiner Tätigkeit bis zu fünf im Jahr."

Der Arbeitskreis habe damals in einer Sitzung über Heiko J. diskutiert. In welchem Jahr das war, sagen beide Gesprächspartner, daran können sie sich rund 20 Jahre später nicht mehr genau erinnern. "Schwulsein war in den 90ern zum Teil sehr verpönt und sehr mit HIV verbunden", sagt einer der beiden. Man habe damals nie Protokoll geführt, um Betroffene zu schützen.

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Im Auftrag des Arbeitskreises und in der Hoffnung, dass die mutmaßlichen Übergriffe sich so stoppen lassen, will sich einer der beiden Männer aber zwei Wochen später mit Heiko J. in dessen Praxis getroffen haben. Der Arzt habe alles abgestritten, sagt unser Gesprächspartner.

Weil damals keiner der Betroffenen an die Öffentlichkeit habe gehen wollen, sei es auch nicht zu offiziellen Ermittlungen gegen Heiko J. gekommen. Zwei Beratungsstellen, so sagen es uns mehrere damals involvierte Personen, hätten J. informell vorerst nicht weiterempfohlen. Der LABAS, der später in LABAHS umbenannt wurde, und der Arbeitskreis zur medizinischen Versorgung HIV-positiver Menschen existieren heute nicht mehr.

"Wir konnten nicht länger schweigen"

Doch die mutmaßlichen Übergriffe gehen offenbar weiter. Ein langjähriger Mitarbeiter der Schwulenberatung sagt, in seiner Abteilung seien bis heute mindestens 100 Beschwerden aufgrund "sexueller Grenzverletzungen" gegen Heiko J. bekannt. Weil Klienten immer wieder von Übergriffen erzählen, entscheiden einige Mitarbeiter der Schwulenberatung 2014, J. mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Am 14. Mai 2014 findet ein Treffen zwischen Beratern der Schwulenberatung, J. und dessen Bruder, der Mitbetreiber und ebenfalls Arzt in der Praxis ist, statt. VICE liegt der Brief vor, in dem die Schwulenberatung um ein solches Treffen bittet. "Wir konnten nicht länger schweigen", sagt ein Mitarbeiter, der bei dem Treffen dabei war. J. hätte Maßnahmen versprochen: etwa, dass Patienten künftig besser aufgeklärt würden, die Tür zum Behandlungsraum bei Genitaluntersuchungen nicht mehr abgeschlossen werde. Auf eine Anfrage von VICE wollte sich J.s Bruder nicht äußern.

Zu diesem Zeitpunkt, im Frühsommer 2014, ermittelt bereits die Berliner Ärztekammer gegen Heiko J. wegen mutmaßlicher Übergriffe auf Patienten. Das Untersuchungsverfahren der Berliner Ärztekammer wird einige Jahre später in einer Anklage der Staatsanwaltschaft wegen „sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses“ münden. Sollte das Gericht J. für schuldig befinden, droht ihm ein Berufsverbot, eventuell sogar eine Haftstrafe.

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Die Deutsche Aidshilfe schreibt: "Die Vorwürfe kursieren in Berlin seit vielen Jahren und sind auch uns bekannt"

Doch im Sommer 2014 wird es noch Jahre bis zu einem Gerichtsverfahren dauern. Bis die Vorwürfe an die Öffentlichkeit kommen, wird es noch Jahre dauern. Unsere Recherchen zeigen allerdings, dass viele Aidshilfe- und queere Organisationen in Berlin seit Jahren über die Vorwürfe Bescheid wissen. Wir haben etliche vertrauliche Gespräche mit diesen Organisationen geführt, doch öffentlich will sich zu J. kaum jemand äußern. Außer der Schwulenberatung und dem Verein "HILFE-FÜR-JUNGS".

 "HILFE-FÜR-JUNGS" vermittelt seit etwa 15 Jahren keine Personen mehr an Dr. J., da es vermehrt zu Beschwerden über den Arzt gekommen sei. Das sagt der langjährige Geschäftsführer Ralf Rötten, der auch das Projekt "subway" leitet, gegenüber VICE.

Die Beratungsstelle bietet Hilfe für Jugendliche und junge Männer, die anschaffen. Das Projekt "subway" legt einen besonderen Fokus darauf, die Jugendlichen und Männer darin zu stärken, sich gegen sexuelle Ausbeutung und sexualisierte Gewalt zu wehren. Die fünf Berater des Projekts arbeiten nach eigenen Angaben mit "mehreren vertrauenswürdigen" HIV-Schwerpunktpraxen zusammen. Die Praxis J. sei jedoch nicht darunter, sagt Rötten. Die Personen, die in die Beratungsstelle kommen, sind meist unter 27 Jahre alt, haben häufig keine Krankenversicherung und keinen legalen Aufenthaltsstatus. Viele von ihnen kommen aus Mittel- und Südamerika, sagt Rötten.

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Die anderen Beratungsorganisationen, mit denen wir gesprochen haben, berufen sich auf den Datenschutz. So auch die Berliner Aidshilfe. Auf eine offizielle Anfrage per E-Mail antwortet die Pressestelle, man werde über interne Abläufe aus datenschutzrechtlichen Vorgaben keine Auskunft geben. Eingehende Beschwerden nehme man sehr ernst. Die Berliner Aidshilfe informiere die Polizei aber nie eigenständig – egal wie schwer die Vorwürfe seien. Das zerstöre das Vertrauen zu den Klienten.

In einem Telefongespräch fragen wir, ob es nicht die Pflicht der Berliner Aidshilfe sei, potentielle Betroffene über die mutmaßlichen Vorwürfe zu informieren. "Wir sind kein Richter, wir sind eine Beratungsstelle", antwortet der Pressesprecher. Zu Gerüchten könne man keine Stellung nehmen.

Der Dachverband Deutsche Aidshilfe hingegen wird gegenüber VICE deutlicher. "Die Vorwürfe kursieren in Berlin seit vielen Jahren und sind auch uns bekannt", schreibt die Deutsche Aidshilfe auf Anfrage, "auch der Geschäftsführung und einzelnen Mitgliedern des Vorstands." Zwar hätten sich die Gerüchte im Laufe der Jahre verdichtet, aber auch der Dachverband habe keine Handhabe gesehen, um offizielle Schritte einzuleiten: Man habe nie offizielle Beschwerden oder Mitteilungen von Klienten erhalten. Man habe aber gewusst, dass Berliner Aidshilfe und Schwulenberatung tätig geworden seien.

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"Prinzipiell besteht in solchen Fällen ein Dilemma", schreibt die Deutsche Aidshilfe weiter. "Es gilt die Unschuldsvermutung. Aber man möchte auch Aufklärung und gegebenenfalls Schutz für potenzielle Opfer erwirken." Dr. J. sei in der deutschen HIV-Szene sehr präsent, immer wieder habe es zwangsläufig Begegnungen in verschiedenen Zusammenhängen gegeben. "In Projekte der Deutschen Aidshilfe haben wir ihn in den letzten Jahren aber nur in Ausnahmefällen einbezogen."

Während sich in den vergangenen Jahren mutmaßlich Betroffene immer wieder mit Vorwürfen an Beratungsstellen wenden, baut J. seinen Ruf als HIV-Experte aus. Das Bundesgesundheitsministerium fördert zwischen 2006 und 2008 ein Forschungsprojekt in J.s Praxis mit 150.000 Euro. Die Praxis J. bildet Mediziner für die Charité aus. 2015 wird J. Mitglied im Vorstand des Arbeitskreis Aids in Berlin.

Jahrelang schaltet die Praxis J. Anzeigen im Szene-Magazin Siegessäule. In der Januar-Ausgabe 2013 erscheint eine Anzeige der Praxis auf der Rückseite, der teuersten Seite im Heft, um junge Männer zwischen 16 und 26 Jahren als Teilnehmer für eine Studie zu gewinnen. "Es geht auch um deinen Arsch" steht dort in großen Lettern. Darunter ist ein nackter Männerpo zu sehen.

Um Teilnehmer für die Studie zu finden, soll J.s Bruder, der mit ihm die Praxis betreibt, persönlich zur Schwulenberatung gekommen sein und für Vermittlungen geworben haben. Das sagt ein langjähriger Mitarbeiter der Schwulenberatung im Gespräch mit VICE. Dem Team sei klar gewesen, dass die Studie zu weiteren Analuntersuchungen junger, "vulnerabler" Menschen durch Heiko J. führen würde. "Auf keinen Fall lassen wir diese Praxis unseren Klienten am Arsch rumfummeln", erinnert sich der Mitarbeiter heute an das, was er damals gedacht habe. Der Mitarbeiter sagt, die Schwulenberatung habe die Anfrage unbeantwortet gelassen. Auf eine Anfrage von VICE wollte sich J.s Bruder nicht äußern.

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Die Ärztekammer leitet 2013 ein Untersuchungsverfahren gegen J. ein

Während die Beratungsstellen nach Wegen suchen, um mit dem mutmaßlich übergriffigen Arzt zurechtzukommen, erreicht der Fall J. auch die Behörden.

Im September 2012 bekommt die Ärztekammer einen Anruf aus einem Zentrum für sexuelle Gesundheit eines Berliner Bezirksamts: Männliche Personen hätten in einem Jugendhilfeangebot vom sexuell übergriffigen Verhalten des Arztes J. erzählt, darunter auch Minderjährige. Das Gespräch ist in Unterlagen dokumentiert, die VICE einsehen konnte.

Gehen Beschwerden bei der Ärztekammer Berlin ein, kann sie gegen Ärzte ermitteln: In Berlin gibt es laut Auskunft der Pressestelle dafür ein Team aus 13 Personen. Die Kammer kann außerdem Rügen aussprechen, Strafgelder, Maßnahmen oder Fortbildungen verordnen, die Kassenärztliche Vereinigung, die Approbationsbehörden und die Gesundheitsämter informieren. Bei besonders schweren Verstößen kann der Vorstand ein berufsgerichtliches Verfahren einleiten. Zum Fall J. wollte sich die Ärztekammer auf Anfrage nicht äußern, da die Behörde der Datenschutzgrundverordnung unterliege. Wie viele Beschwerden es dort über die Jahre gegen J. gegeben hat, teilt die Ärztekammer deshalb nicht mit. Auch die Approbationsbehörde gibt aus diesem Grund keine Auskunft zu Dr. J.

Ein Dokument, das VICE vorliegt, zeigt, dass bei der Ärztekammer seit 2002 mindestens zehn Vorgänge angelegt sind, die J. betreffen. In mindestens zwei dieser Vorgänge geht es unseren Informationen nach um mutmaßliche sexuelle Übergriffe.

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Im Juni 2013 beschließt der Kammervorstand einstimmig, ein Untersuchungsverfahren gegen Heiko J. einzuleiten. Es bestehe der Verdacht, dass er seine Berufspflichten verletzt habe. J. habe an mehreren Patienten sexuelle Handlungen vorgenommen und anzügliche Bemerkungen gemacht.

Diese Vorwürfe stammen aus den Jahren 2008 bis 2013 und wurden von der Ärztekammer in aufgezeichneten Gesprächen dokumentiert. Sie entsprechen in weiten Teilen den Erlebnissen, die andere mutmaßlich Betroffene gegenüber VICE schildern.

Welche Motive dabei eine Rolle gespielt haben mögen, macht keinen Unterschied, wenn es darum geht, ob ein Arzt seine Berufspflicht verletzt hat. „Wegen der Asymmetrie im Arzt-Patienten-Verhältnis“ kommt es nicht darauf an, „ob der Patient oder die Patientin sich auf sexuelle Avancen im Rahmen des Behandlungsverhältnisses eingelassen hat“, schreibt die Ärztekammer Berlin auf Anfrage. Ein Arzt verletzt also immer die Berufspflicht, sobald er sexuelle Handlungen an einem Patienten bei einer Behandlung vornimmt. Das ergibt sich aus der Berufsordnung der Landesärztekammer und ist auch strafrechtlich verboten.

Ohnehin gilt: "Jede körperliche Berührung im Behandlungsverhältnis ist rechtfertigungsbedürftig", schreibt die Ärztekammer auf Anfrage, und sei ohne triftigen Grund unzulässig – auch ohne, dass dem Arzt eine sexuelle Motivation nachgewiesen wird.

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Ein Ermittlungsverfahren, das sich über Jahre hinzieht

Noch im Dezember 2013 hört die Ärztekammer die ersten Zeugen an. Bei den Terminen sind auch eine Anwältin und ein Anwalt von J. dabei. Eine Person, die einen Zeugen zum Gespräch begleitet hat, beschreibt ihr Erlebnis im Gespräch mit VICE: "Ich habe dort authentisch erlebt, wie der mutmaßlich Betroffene von J.s Verteidigern auseinandergenommen wurde. Im Sinne von: Du bist ein schwuler Mann, er ist ein schwuler Mann, da ist doch sicher Begehren gewesen."

J.s Anwälte streiten damals alle Vorwürfe gegen ihren Mandanten ab. In einer Stellungnahme von 2013 wird suggeriert, die Zeugen seien möglicherweise nicht glaubwürdig, weil es sein könne, dass sie sich prostituierten, Rauschmittel konsumierten oder bereits Opfer sexueller Übergriffe geworden seien. Bei einem der Betroffenen seien die angeblichen Vorwürfe möglicherweise auf seinen Drogenkonsum zurückzuführen. Womöglich habe er sich diese nur eingebildet oder die sexuellen Handlungen selbst initiiert. Über hundert Seiten wissenschaftlicher Artikel im Anhang sollen diese angeblichen Folgen von Drogenkonsum erklären.

Die Personen, die uns gegenüber Vorwürfe gegen J. erheben, kommen meist aus Wissensberufen, Akademikermilieus und dem Kunst- und Kulturbetrieb.

Am 23. Dezember 2013 stellt die Anwältin eines mutmaßlich Betroffenen nach einer besonders drastischen Schilderung von Übergriffen Strafanzeige.

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Fast zur gleichen Zeit schicken die Anwälte eine von J. unterschriebene Selbstverpflichtungserklärung an die Ärztekammer: J. werde künftig Patienten nur noch untersuchen und behandeln, wenn eine weitere Person dabei sei.

Über die neuen Regeln informiert J. im Januar 2014 auch die Mitarbeitenden der Praxis. VICE liegt diese Betriebsmaßnahme vor. Dass die Berliner Ärztekammer zuvor eine ähnlich lautende Maßnahme in Betracht gezogen hatte, wird in dem Schreiben mit keinem Wort erwähnt.

J.s Anwälte hatten die Ärztekammer außerdem wenige Monate zuvor informiert, dass J. von nun an vor Intim-Untersuchungen seine Patienten eine schriftliche Aufklärung unterschreiben lasse. VICE gegenüber hat keine der mutmaßlich betroffenen Personen erwähnt, eine solche Einwilligung unterschrieben zu haben – auch keine der Personen, die angibt, nach Ende 2013 sexualisierte Gewalt durch J. erlebt zu haben.

Im Juli 2014 hat die Polizei ihre Ermittlungen beendet. Das geht aus einer Aktennotiz der Ärztekammer hervor, die VICE vorliegt. Die Akten der Ärztekammer gehen daraufhin an die Staatsanwaltschaft. Diese übernimmt. Im Februar 2016 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Heiko J., fast dreieinhalb Jahre nach den ersten Beschwerden bei der Ärztekammer.

"Wir glauben, dass es längst zu einem Verhandlungstermin gekommen wäre, wenn es sich hier um einen Gynäkologen handeln würde, der Frauen mutmaßlich missbraucht."

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Für die mutmaßlichen Vergehen des Arztes gibt es Strafrechtsparagrafen, auf dem auch die Anklage basiert: Paragraf 174c verbietet "sexuellen Mißbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses". Auch der Versuch ist laut des Gesetzes strafbar.

Bis heute stand Heiko J. nicht vor Gericht. Der ursprüngliche Eröffnungstermin im August 2019 wurde zuletzt auf April des kommenden Jahres verschoben. J. praktiziert derweil weiter. Für mutmaßlich Betroffene ist das schwer verständlich.

Auch die Pressesprecherin der Berliner Strafgerichte sagt gegenüber VICE am Telefon, dass das Verfahren "leider" nun "schon länger" liege. Der Fall sei so umfangreich und streitig, die elf Haupttermine seien für das Gericht daher nur schwer zu terminieren.

Amtsgericht Tiergarten

Im April 2020 soll der Strafprozess gegen Dr. Heiko J. am Amtsgericht Tiergarten eröffnen | Foto: imago images | STPP

Die fünf Betroffenen werden in dem Verfahren gegen J. von drei Anwältinnen vertreten: von Undine Weyers, Barbara Petersen und Änne Ollmann. Sie sagen gegenüber VICE:

"Diese überlange Verfahrensdauer erklärt sich nicht allein dadurch, dass das Amtsgericht überlastet ist oder es sich um komplexe Vorwürfe handelt. Wir glauben, dass es längst zu einem Verhandlungstermin gekommen wäre, wenn es sich hier um einen Gynäkologen handeln würde, der Frauen mutmaßlich missbraucht."

Anwälte gehen gegen mutmaßlich Betroffene und Medien vor

Es ist nicht so, dass Betroffene über die Jahre nicht versucht hätten, die mutmaßlichen Übergriffe öffentlich zu machen. Es gab und gibt eine ganze Reihe von kritischen bis expliziten Kommentaren und Beschreibungen im Internet. Doch J. sorgt offenbar dafür, dass die Vorwürfe schnell wieder verschwinden. "Alle haben Angst vor ihm, weil er so klagewütig ist, dass er Leute niedermetzelt", sagt uns ein Mediziner, der J. kennt, weil er mit ihm in mehreren Verbänden zusammenarbeitet.

VICE liegen Unterlagen vor, die zeigen, dass J. gegen negative Bewertungen und Vorwürfe im Internet vorgeht, die mutmaßlich betroffene Personen gegen ihn erheben. Ein Mitarbeiter der Schwulenberatung sagt, dass J. ihn wegen übler Nachrede angezeigt habe. Der Grund: Der Mitarbeiter berichtete 2016 der Ärztekammer von den mutmaßliche Erlebnissen seiner Klienten. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Das belegen Unterlagen, die uns vorliegen.

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Als in der Siegessäule im Dezember 2018 eine Anzeige erscheint, in der Betroffene von "sexuellen Übergriffen während Behandlungen durch einen in Berlin praktizierenden Arzt" gesucht werden, steht wenige Monate später das Landeskriminalamt mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss vor der Tür des Verlages. Das schreibt die Geschäftsführerin Gudrun Fertig gegenüber VICE. J.s Name fällt in der anonymen Kleinanzeige nicht.

Das Magazin hat nach eigenen Angaben seit 2018 Kontakte zu mutmaßlich Betroffenen. Seitdem hätten sie keine Werbeanzeigen mehr von J. veröffentlicht. "Es handelt sich bisher um eine sehr schwierige Recherche, die auch von Menschen gekennzeichnet ist, die aus Angst nicht öffentlich sprechen wollen, und in der höchste journalistische Sorgfalt geboten ist. Die umfangreichen Recherchen von VICE und BuzzFeed News begrüßen wir deshalb ausdrücklich“, schreibt Fertig in einer Stellungnahme. „Außerdem wächst in der Community erst langsam ein Bewusstsein dafür, dass schwule Männer sexualisierte Übergriffe nicht bagatellisieren, sondern ernst nehmen, darüber sprechen und auch anzeigen sollten."

Eine Person, die uns von einem mutmaßlichen Übergriff durch J. Anfang der 2000er berichtet, hat eine weitere Erklärung dafür, warum die mutmaßlichen Übergriffe so lange nicht in die Öffentlichkeit kamen: "Die Angst vor HIV brachte Menschen dazu, weiter zu ihm zu gehen. Und J.s großes Wissen auf dem Gebiet." Der Partner des Mannes habe sich mit HIV infiziert, auch deshalb seien sie immer wieder in die Praxis gegangen. Sie hätten viel von dem Arzt gelernt.

Heute gibt es mehr als 50 HIV-Schwerpunktärzte und -ärztinnen in Berlin und etliches Personal. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Personen über all die Jahre nichts von den mutmaßlichen Übergriffen durch J. mitbekommen haben.

Ob die vielen Berliner HIV-Schwerpunktärzte und -ärztinnen Schritte gegen J. eingeleitet haben, wissen wir nicht. Wir haben mehrere von ihnen angefragt, doch nur eine Person will sich zitieren lassen. Auch diese Person will anonym bleiben, aus Angst vor einer rechtlichen Auseinandersetzung

Die anonyme Person sagt, ihr seien seit 2014 mindestens zehn Fälle bekannt, in denen Patienten sagten, sie hätten sich bei J. unwohl gefühlt. Sie hätten ihr erzählt, J. habe ihnen seine private Telefonnummer gegeben, unangemessene Kommentare über ihre Genitalien gemacht oder sie hätten sich grundlos ausziehen sollen. "Leute wechseln aus diesem Grund zu mir", sagt die Person.

Als wir der Person mitteilen, dass sich trotz mehrfacher Anfragen kein HIV-Schwerpunktarzt und keine -Schwerpunktärztin außer ihr zitieren lassen will, schreibt sie in einer Nachricht: "Ich finde es schlimm, dass sich alle wegducken und alle irgendetwas wissen, aber nichts damit zu tun haben wollen." Alle seien besorgt um ihre Patienten. "Aber sie lassen sie mit der Verantwortung alleine, etwas gegen J. zu tun", sagt die Person bei einem späteren Gespräch am Telefon. "Welch eine Bigotterie."

Der Strafprozess gegen Heiko J. soll nun voraussichtlich am 2. April 2020* beginnen. Dann wird der Arzt vor dem Berliner Amtsgericht stehen. J. wird sich den Vorwürfen von fünf Personen stellen müssen, die sagen, er habe sie missbraucht.

 *Der Strafprozess hat sich weiter verzögert und begann am 19. April 2021.

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