Die Hände der Hexe umschließen die Lederpeitsche, als würde sie sie jederzeit auf die Zuschauenden in der ersten Sitzreihe niederprasseln lassen. Ihre nackten Brüste umrahmt ein Bondage-Geschirr im Pentagramm-Muster. Von der riesigen Leinwand schaut sie erhaben auf den dunklen Kinosaal herab. Dann wechselt die Kameraeinstellung: Die Hexe sitzt breitbeinig auf einem Stuhl und wichst ihren Penis, bis sie kommt und das milchige Sperma über ihre Finger läuft. Im Augenwinkel sehe ich, wie meine Begleitung ihre Hand vors Gesicht schlägt.
In den nächsten anderthalb Stunden würgt Kira jedes Mal, wenn sie einen Penis oder eine Vagina in Nahaufnahme sieht. Kira ist eine Freundin von mir. Sie ist 18 und heißt eigentlich anders. Aber Kira möchte nicht, dass ihre späteren Arbeitgebenden bei der Google-Suche auf einen Artikel von ihr stoßen, in dem sie sich in einem Neuköllner Kino Pornos anschaut. Und auch nicht, dass sie wissen: Für Kira ist es das erste Mal überhaupt, dass sie andere Menschen dabei beobachtet, wie sie Sex haben.
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“Ich habe noch nie verstanden, warum Menschen Pornos erotisch finden“, sagt Kira. “Für mich ist Erotik etwas Intimes. Und das teile ich nicht mit einem Publikum.” Seit sie 16 ist, wohnt Kira mit ihrem Freund zusammen. Vor zwei Wochen hat sie an einem Stand bei der Erotik-Messe Venus alle Vibratoren eingeschaltet. Und mit der Verkäuferin gelacht, als sie nicht wusste, wie man die vibrierenden Penisse wieder ruhig bekommt. Es macht nicht den Anschein, als sei Kira prüde. Dennoch sagt sie, sie habe nie Interesse an Pornos gehabt. Doch als ich sie frage, ob sie Lust hat, mit mir zum queer-feministischen “Pornfilmfestival” zu gehen, sagt sie zu. “Aus Neugierde.”
In meinem ersten Porno zieht sich eine Frau einen lebendigen Aal aus der Vagina
Ich kann mich noch gut an den ersten Porno erinnern, den ich gesehen habe. Ich war damals in der siebten Klasse und 13 Jahre alt. Auf einem Ausflug zu einer Burg reichten ein paar Jungs ein Nokia durch die hinteren Busreihen. Auf dem winzigen, pixeligen Farbbildschirm schob ein Mann mit glatt polierter Glatze seinen Kopf in die Vagina einer Frau. Ein anderer Clip zeigte dieselbe Frau dabei, wie sie einen lebendigen Aal aus ihrem Genital zog. Die Jungs aus meiner Klasse grölten.
Einer repräsentativen Studie der Uni Hohenheim und der Uni Münster zufolge haben 46% der Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren schon einmal “harte” pornografische Inhalte gesehen. Einer Pornhub-Statistik von 2017 zufolge suchen Konsumierende in Deutschland besonders oft nach Clips, in deren Titeln Mütter, Stiefmütter oder “German Teens” vorkommen. Das reale Sexualleben der Zuschauenden dürften die Pornos dabei in den meisten Fällen nicht repräsentieren. Und Feministen und Feministinnen kritisieren, dass junge Menschen ausgerechnet dort lernen, was Sex ist.
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Seit 2006 gibt es das Berliner “Pornfilmfestival”, es ist in Deutschland das einzige seiner Art. Sexualität ist hier politisch. Die Pornos thematisierten queere und feministische Sichtweisen auf Körper, Geschlecht oder Sexualität, heißt es auf der Website des “Pornfilmfestivals”. Sie sind ein Mittel, um sich politisch mit einer Filmkultur auseinanderzusetzen, in der transgeschlechtliche Personen nur als Fetisch existieren und Frauen als schwanzlutschende Nymphomaninnen dargestellt werden. Und vielleicht eine bessere Einführung in die Welt der Sexfilme als ein Standard-Clip auf YouPorn.
Ich habe für Kira und mich Karten für die Kurzfilmreihe “Fucking against Fascism” gekauft. Und so sitzen wir an einem Freitagmittag um 12 Uhr im Kino, um uns sechs Pornofilme anzuschauen.
Nach jedem Porno applaudiert das Publikum
Zu allem Überfluss ist der Saal 3 abgedunkelt, als wir ihn betreten – und der erste Film hat begonnen. Bis auf ein paar Sitze in der ersten Reihe sind alle Plätze besetzt. Wir schleichen uns halb geduckt und mit schuldbewussten Gesichtern an einer Frau mit auffälligem, dunklem Lidschatten und braun gewelltem Pony vorbei und setzen uns links neben sie direkt vor die meterhohe Leinwand. Eine halbe Stunde später werden wir derselben Frau dabei zuschauen, wie sie sich in einer Badewanne voller schwarzer Milch einen Dildo in den Anus schiebt.
Die Sexfilme beim “Pornfilmfestival” sind ein gemeinschaftliches Erlebnis. Im Kino Movimento in Berlin-Neukölln sitzen von heterosexuellen Paaren bis transgeschlechtlichen Filmschaffenden alle möglichen Menschen in den samtbezogenen, blutroten Klappsitzen.
Die Pornos sind für sie eher Kunst als eine schmuddelige Selbstbefriedigungsvorlage, die sich die Zuschauenden mit einer Hand in der Unterhose in ihrem Schlafzimmer reinziehen. Nach jedem Film applaudieren die Zuschauenden im Saal, als gäbe es keinen revolutionäreren Akt als eine squirtende Vagina.
Kira scheint die Ekstase nicht nachvollziehen zu können. “Ich klatsche doch nicht für einen Porno”, raunt sie mir zu. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kira mit ihren 18 Jahren nicht gerade die neuesten Drachendildo- und Gangbang-Videos auf ihrer Festplatte lagert. Dennoch überrascht es mich, dass sie es in der digitalen Gesellschaft geschafft hat, sich von sexuellen Inhalten geradezu abzuschotten. Schließlich poppen oft bereits fünf Fenster für “Geile Fick-Mütter in deiner Nähe” auf, wenn man sich die neueste Folge American Horror Story online reinziehen möchte.
Die meisten “klassischen” Pornos sind für das männliche Auge gemacht
“In Mainstream-Pornos geht es vor allem um die Befriedigung männlicher Lust”, sagt Annika Klose von den Berliner Jusos im vergangenen Jahr im Interview mit VICE. Die Politikerin fordert eine staatliche Finanzierung feministischer Pornos, um junge Menschen zeitgemäß und gendergerecht aufzuklären. “Die Körperformen und Praktiken in Pornos schaffen eine Realität”, sagt Klose. Und Veranstaltungen wie das “Pornfilmfestival” versuchen, diese mit Diversität und zum Teil ungescripteten Filmen authentischer darzustellen als die meisten “klassischen” Pornos.
Doch diverse Körperbilder bedeuten nicht automatisch, dass die Zuschauenden dabei Spaß haben. Kira rutscht immer tiefer in das samtige Sitzpolster. Als zwei nicht-binäre Darstellende sich krümeligen Marzipan zwischen die Lippen schieben, stöhnt sie demonstrativ auf. Als ein Mann seine Hand in die Vagina einer Frau drängt, zieht sie die Augenbrauen hoch. Und als drei Frauen sich minutenlang mit einem Strap-On penetrieren, zieht Kira ihren schwarzen Anorak über ihre Augen, bis die Vorstellung vorbei ist.
“Ich will meine Sexualität nicht von Pornos beeinflussen lassen.”
“Das war eine krasse Reizüberflutung”, sagt Kira, als wir nach den Filmen vor dem Kino auf dem Bürgersteig stehen. Neben uns strömen die anderen Gäste aus den offenen Glastüren, an der Ecke küssen sich zwei Frauen vorm Späti zum Abschied. Sie verstehe die politische Dimension des “Pornfilmfestivals”. Schon im Sexualunterricht habe sie gelernt, dass der Sex in Pornos nicht “die Norm” sei. Das habe dazu geführt, dass sie am Ende gar keine Sexfilme geschaut habe. “Ich hatte Angst, dass Pornos mich in meiner Sexualität beeinflussen”, sagt sie. Dennoch seien auch feministische Pornos für sie keine Option. “Ich finde es komisch, Menschen beim Sex zuzusehen”, sagt sie. “Auch wenn es zwei dicke Lesben sind, die gegen den Faschismus ficken wollen.”
Auch Annika Klose will junge Menschen nicht gezwungenermaßen mit Pornos bespielen. “Wir sind nicht der Meinung, dass Jugendliche zu allem Zugang haben sollen”, sagt sie. “Durch das Internet ist das aber de facto nicht mehr zu kontrollieren.” Die Jusos setzten daher auf Aufklärung statt Verbote. Und wenn Lehrende wüssten, auf welche Filme sie bei Fragen von Schülern und Schülerinnen verweisen können, hätten diese vielleicht auch keine Angst vor Pornos.
Ich mache mir Sorgen, dass ich meine Freundin mit den expliziten Sexszenen und dem Anblick nackter Menschen verstört habe. Es sieht nicht danach aus. Kira fummelt an der rosafarbenen Weingummi-Vulva herum, die sie nach dem Film an der Kinotheke gekauft hat, und drückt eine Zigarette durch das kleine Loch unter dem Kitzler. Dann klemmt sie sich die Zigarette zwischen die grinsenden Lippen.
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