Popkultur

“Ich denke nie ans Publikum”—ein Interview mit Dario Argento

Wenn ihr nicht wisst, wer Dario Argento ist, kann ich euch mit keiner Einleitung der Welt weiterhelfen. Stattdessen solltet ihr euch eine Einführung in den stroboskopischen Effekt und die Funktionsweise von „Bewegtbildern” durchlesen, auf Wikipedia lernen, was ein „Cinematograph” (oder auch: „Kino”) ist, euch dann ein Abspielgerät für sogenannte „Filme” zulegen und in zirka drei Jahren noch mal hier vorbeischauen, wenn ihr euch bis zum Anschlag ins mythologische Gedärm des italienischen Giallos eingearbeitet habt. Weil ich euch aber mehr zutraue und ihr sonst wahrscheinlich auch gar nicht hier wärt, lasst uns gleich mal eine Ebene weiter gehen.

Denn auch bei echten Argento-Fans gibt es zwei weitverbreitete Ansichten, mit denen ich an dieser Stelle aufräumen möchte: Das ist erstens, ihn für postmodern und ironisch zu halten und zweitens, zu glauben, Dario Argento wäre in erster Linie Horrorregisseur. Beides führt zu einem Bild, das noch entstellter ist, als die verwesenden Opfer in vielen seiner ikonischen Filmen. Argento meint alles, was er zeigt und ist weniger Gore-Spezialist, als ein großer Surrealist, der jede Mythologie (egal, ob selbst erfunden oder aus der Weltliteratur übernommen) so lange durch die künstlerische Mangel dreht, bis daraus ein Märchen aus Maden, Gliedmaßen und satten Pastelltönen wird.

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Foto von Lele Saveri, via VICE Media

Gestern Nacht lief sein neuester Streifen, Dracula 3D, im Rahmen des /slash einhalb Festivals im Wiener Filmcasino. Am Vormittag davor habe ich mich mit ihm noch über geile Monster, große Fernseher und das Sterben der Filmkritik unterhalten.

VICE: Du selbst beschreibst den Gore-Aspekt in deinen Filmen ja als ein Gelage, bei dem es übertrieben zugeht und wo Realismus keine Rolle spielt.
Dario Argento:
Ja, es ist wie eine Messe, wie ein Gottesdienst.

Gleichzeitig habe ich aber das Gefühl, dass die Schocksequenzen an einem bestimmten Moment plötzlich umschlagen und der Horror mit einem Mal sehr realistisch wird—so als wäre der Horror bei dir in Schokolade verpackt, damit er einen umso unvorbereiteter trifft. Ist das dein Rezept?
Das stimmt schon so, ja. Mir geht es darum, etwas sehr Spektakuläres und barock Aufgeladenes in etwas zu verwandeln, das sehr präzise und kalt ist, wie ein Messerstich. Also zuerst opulente Schönheit zu schaffen und sie dann mit einem Stich umzubringen.

Wenn ich deine Arbeit mit einem anderen Regisseuren vergleichen müsste, würde ich am ehesten David Lynch sagen—und weniger klassische Horrorfilmer. Siehst du selst auch Parallelen zwischen euch?
Ich habe wirklich einige Gemeinsamkeiten mit David Lynch, wenn es um die Poetik geht—nicht die Filme selbst, die schon sehr unterschiedlich sind, aber unser Zugang zum Kino an sich ist durchaus ein recht ähnlicher, ja. Wir kommen auch beide vom Surrealismus.

Und genau wie bei Lynch gibt es bei deinen Filmen Krimi-Elemente, klassische Whodunits und viel Suspense, aber im Großen und Ganzen zeigen sie das Leben als etwas Unlogisches, Mystisches.
Ja, weil ich am Stärksten von den großen Regisseuren des frühen Kinos beeinflusst bin—vom deutschen Expressionismus und den spanischen Surrealisten. Luis Buñuel und seine Gruppe waren für mich sehr prägend.

Was genau fasziniert dich so stark am Surrealismus?
Der Surrealismus hat meine ganze Poetik mitgeformt. Damit meine ich nicht nur die Filme, sondern vor allem auch die Art zu schreiben, die die Surrealisten entwickelt haben. Diese gesamte Écriture automatique-Sache, bei der man einfach nur loslässt und sein Gehirn auf die Reise schickt. Das macht einem manchmal Angst und häufig versteht man während dem Schreiben selbst nicht, was man da eigentlich tut. Vieles kapiert man erst, wenn man es auf die Leinwand bringt.

Du hast einmal gesagt, deine Filme machen dir nur beim Schreiben Angst, aber beim Machen treibst du dir diese Angst dann aus.
Ja, genauso ist es.

Was würdest du sagen ist der Grund, warum du überhaupt schreibst?
Ich habe schon sehr jung zu schreiben begonnen, zuerst mit kleinen Gedichten und Märchen. Schreiben war für mich einfach eine Notwendigkeit—etwas, das von tief drinnen kommt. Ich möchte vor allem Geschichten erzählen, darum geht es mir im Wesentlichen. Eines Tages habe ich mir dann ein Drehbuch von meinem Vaters zur Hand genommen und begonnen, es zu studieren. Mir ging es darum, zu lernen, wie man Filme erzählt. Ich hab es also ganz genau durchgelesen, viel darüber reflektiert und dann meine ersten eigenen Drehbücher geschrieben. Das ist mein Karriereweg. Sehr direkt, sehr einfach.

Und du wolltest nie etwas anderes als Filme schreiben? Zum Beispiel Romane?
Nein, nein. Ich mag Filme. Romantische Horrorgeschichten in Buchform haben mich nie besonders interessiert.

Wenn du die gesamte Filmgeschichte auf ein Genre runterbrechen müsstest, welches wäre das?
Das kann ich wirklich nicht sagen, weil ich einfach alle Arten von Filmen liebe. Ich verfolge alles, was im Kino passiert und schaue mir jede Arbeit gerne an. Da halte ich es mit Jean-Luc Godard, der einmal meinte: In jedem noch so fürchterlichen Film gibt es diesen einen Moment, wo die Kamera oder die Schauspieler etwas Herausragendes vollbringen und damit einen magischen Augenblick schaffen, auch wenn es vielleicht nur ein, zwei Minuten sind. Es ist gut, sich alles anzusehen, weil in allem etwas Bedeutsames steckt. Das ist auch meine Idee von Kino.

Jean-Luc Godard hat auch mal gesagt: Alles, was du zum Filmemachen brauchst, sind eine Frau und eine Waffe.
Exakt, ja. Er ist eigentlich sehr action-orientiert und liebt genau wie ich die Magie, auch wenn man ihn oft als zu intellektuell einordnet.

Apropos Magie. Dein Meisterwerk Vier Fliegen auf grauem Samt hat in Österreich einen ziemlich sensationellen Bluray-Release bekommen—was auch fast an Zauberei grenzt, nachdem der Film aus rechtlichen Gründen zuvor für Jahrzehnte komplett vom Markt verschwunden war.
Ja, ich kenne diese Bluray, sie ist wirklich wunderschön geworden und es freut mich besonders, dass es der Film noch mal zu einer Erscheinung geschafft hat.

Wie denkst du generell über Blurays und Heimkino? Kommt das deinen Filmen entgegen?
Ich liebe es! Es ist wichtig, dass die Filme in Umlauf sind und überall gesehen werden können. Aber vor allem sind die Filme selbst wichtig und nicht das Medium, in dem man sie anschaut. Sicher, manchmal ist die Leinwand geeigneter, aber wenn du einen ordentlich großen Fernseher hast, macht das fast keinen Unterschied mehr.

Ich frage, weil es auch viele Puristen gibt, die meinen, man kann sowieso nur im Kino das echte, volle Erlebnis haben.
Nein, nein, für mich gilt das nicht. Nein.

In einem älteren Interview mit VICE hast du mal erwähnt, dass die Filmkritik heute eine aussterbende Kunst ist—und dass sie eigentlich komplett von Reviews ersetzt wurde, die dir den Plot nacherzählen, die Schauspieler auflisten und fertig. Warum, denkst du, ist das so?
Kritik besteht heute wirklich nicht mehr aus sehr viel mehr als dem. Ich weiß auch nicht, woran es liegt. Vielleicht hat es damit zu tun, wie Zeitungen und Medien heutzutage aufgebaut sind. Viele sind einfacher, kürzer, schneller und leisten sich nicht mehr diesen Luxus. Außerdem sind Kritiker heute keine richtigen Kritiker mehr—es sind einfach Berichterstatter, die nebenbei auch einen kleinen Aufsatz über einen Film schreiben, mehr nicht. Es geht nicht mehr darum, den Geist des Films einzufangen oder sich zu fragen, was der Film oder der Regisseur ursprünglich damit wollte. Aber das ist schon okay.

Du trauerst der Filmkritik von damals also nicht nach?
Ich denke mir, dass das Publikum von heute Filme besser versteht als früher, weil jeder selbst mehr Erfahrung und mehr Schautradition hat. Vielleicht hat die heutige Generation von Kinogehern es einfach nicht mehr nötig, dass ihnen jemand sagt, wie sie über einen Film zu denken haben.

Wie wichtig ist dir selbst die Kritik deiner Fans? Ist es generell wichtiger, den Zuschauern zu gefallen oder deine künstlerische Vision umzusetzen?
Ich denke eigentlich nie an das Publikum, wenn ich schreibe oder drehe. Das habe ich auch nie getan. Primär geht es mir immer um die Geschichten selbst. Manchmal trifft es sich halt, dass das, was mir gefällt, auch den Fans gefällt.

Auf der nächsten Seite erzählt Dario Argento von seiner Arbeit für Masters of Horror, der Filmmusik zu Suspiria und erklärt, was das asiatische Kino besser macht.

Markus auf Twitter: @wurstzombie

Foto von Hanna Pribitzer, /slash Filmfestival

Was ich als Fan besonders interessant fand, war deine Arbeit für die TV-Reihe „Masters of Horror”. Deine erste Episode, Jenifer, bei der es um eine sexy Nymphe mit entstelltem Gesicht geht, die Männer in die komplette Abhängigkeit von sich treibt, habe ich mir inzwischen vier oder fünf Mal mit unterschiedlichen Freunden angesehen—und alle waren völlig geschockt von der Szene, wo Jenifer ein kleines Kind auffrisst.
Sehr gut! Man sagt so oft, dass alles bereits gemacht wurde, aber das zeigt mir, dass es immer noch Dinge gibt, mit denen man die Menschen—auch junge Menschen—richtig schockieren kann. Solche Schockmomente sind immer sehr, sehr simpel; sie tauchen beim Schreiben ganz natürlich auf, weil ich direkt in den Monstern stecke.

Wie war die Arbeit für „Masters of Horror” für dich, wo du erstens fürs Fernsehen und zweitens mit einer fixen Crew gearbeitet hast?
Als ich in den USA angekommen bin, war das erste, das die Produzenten zu mir sagten: „Du kannst machen, was du willst. Wir wollen deine echte Natur sehen.” Ich war wirklich sehr enthusiastisch und vor allem komplett frei. Es gab überhaupt keinen Druck. Die Geschichte selbst habe ich aus einem alten Comic aus den 70ern—der Film sieht auch wie ein Comic aus. Als mich Steven Weber, der Hauptdarsteller, fragte, was denn genau sein Verhältnis zu Jenifer wäre, meinte ich: „Stell dir vor, dir begegnet so jemand im echten Leben. Was wäre dann? Natürlich würdest du dich verlieben. Du würdest dir denken, das ist schon okay so. Man muss so ein Monster einfach lieben.”

Als ich mir gestern Abend vorm Einschlafen den Soundtrack zu Suspiria noch mal angehört habe, ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass die Musik von Goblin auch ohne Filmbilder bereits extrem gruselig ist. Warum hast du eine so dominante Band gewählt und nicht etwas, das einfach nur die Stimmung des Films unterstützt?
Weil der Film sehr speziell und sehr eigenartig war und ich deshalb etwas sehr Dominantes brauchte, das diese Eigenheit noch verstärkt, statt einem Soundtrack, der die Bilder subtil untermalt. Ich habe vor dem Dreh sehr viel mit den Typen von Goblin diskutiert und wir haben ewig gemeinsam erarbeitet, in welche Richtung es gehen sollte. Ich liebe den Soundtrack immer noch extrem, es ist definitiv die beste Musik in allen meinen Filmen.

Du hast ja auch noch öfter mit Goblin zusammengearbeitet.
Ja, und sie sind jedes Mal sensationell, aber Suspiria ist immer noch meine absolute Lieblingsmusik.

Seit zirka fünf Jahren halten sich auch schon die Gerüchte über ein Remake von Suspiria.
Ich glaube, es gab viele Drehbuchentwürfe, aber scheinbar war bisher keines gut genug und irgendwo auf dem Weg haben sie vorerst wieder aufgegeben.

Aber du wurdest nie diesbezüglich von irgendjemandem konktaktiert?
Nein, von niemandem. Nicht von den Produzenten, nicht vom Regisseur, von keinem. Ich weiß von dem Remake selber auch nur aus dem Internet. Aber ist auch besser so—ich möchte damit gar nichts zu tun haben.

Du bist generell kein großer Freund von Hollywood-Remakes, wenn ich das richtig verstanden habe. Letztes Jahr ist auch eine US-Version von Oldboy erschienen—hast du die zufällig gesehen?
Ja, aber sie hat mir nicht gefallen. Das ist doch nur Geldmacherei, keine Neuinterpretation aus künstlerischen Gründen.

Gerade letzte Woche jährte sich der Sterbetag von Mario Bava zum 24. Mal. Neben dir war er vermutlich der zweite große Giallo-Regisseur. Hat dich seine Arbeit beeinflusst?
Ja, wir waren wie eine Familie. Sein Sohn, Lamberto Bava, war mein Assistent, und Mario selbst hat die Special Effects für Inferno gemacht. Wir waren immer sehr eng, weil wir die selben Dinge mögen, die gleichen Autoren und die gleichen Filme. Aber er ging immer in eine etwas andere Richtung, war mehr an Fantasy interessiert. Seine Filme waren mir auch immer zu ironisch.

Generell sind Horrorfilme seit ihm sehr postmodern geworden und versuchen häufig, clever und ironisch zu sein …
… anstatt auf starke Emotionen zu setzen, ja.

Du meintest mal, im asiatischen Horrorkino liegt die Hoffnung.
Ja, in Südkorea, Japan und Thailand gibt es heute wahnsinnig gute, kleine Produktionen—manche davon nur im Netz. Auch in Südamerika und hier vor allem in Argentinien ist das Genre sehr stark.

Was macht die Filme dort so viel besser?
Der Horror ist psychologisch. Er kriecht unter die Oberfläche, tief in dich hinein. Etwas an den Geschichten berührt dich an einem empfindlichen Punkt und macht dir Angst.

Was ist mit Europa? Gibt es auch hier in der jüngeren Vergangenheit irgendwas, das besonders heraussticht?
Ich finde Amer von Hélène Cattet und Bruno Forzani sehr interessant. In Spanien gab es eine vielversprechende Szene, aber jetzt fehlen die Förderungen.

Dein neuester Film ist Dracula 3D. Im Gegensatz zu Phenomena, Suspiria und vielen anderen deiner Filme entwirfst du hier keine komplett eigenständige Mythologie, sondern greifst auf eine Geschichte mit einer ziemlich reichen Tradition zurück. Was hat dich daran interessiert?
Manchmal macht es mir Spaß, das Klassische aus der Distanz zu sehen, durch meine ganz eigene Brille. Ich hatte ja auch schon Themen wie das Phantom der Oper und Macbeth in meinem Werk, wo ich ebenfalls mit vorhandenen Mythologien arbeiten musste. Aber das hat auch seinen Reiz—zuzusehen, wie die Charaktere vom Original abweichen und wie die Story irgendwann abbiegt.

Zum Anschluss: Was ist die beste Frage, die dir noch niemand gestellt hat?
Wahrscheinlich, warum ich überhaupt Filme mache.

Und was wäre die Antwort dazu?
Naja, wahrscheinlich hat die Frage deshalb noch niemand gestellt, weil sie viel zu schwierig zu beantworten ist.

Das heißt, du machst so lange weiter Filme, bis du die Antwort weißt?
Ich versuch’s zumindest!

Markus auf Twitter: @wurstzombie