Endloser Tod


Der wahrscheinlich größte Friedhof der Welt, Wadi al-Salam, dehnt sich kontinuierlich weiter aus und ist daher kaum mehr zu überblicken. Das Gebiet erstreckt sich über mindestens 8.000 Quadratmeter. Foto von Hassan Al-Jarrah.

Den Weg hierhin zu finden hätte nicht einfacher sein können. Ich brauchte nur den Autos mit einem Sarg auf dem Dachgepäckträger zu folgen. Diese schauerliche Prozession ist täglich zu beobachten, wenn Hunderte arabischer Männer mit Turbanen und schwarz verschleierte Frauen die unbarmherzige irakische Wüste nach Nadschaf durchqueren, das nach Mekka und Medina die drittwichtigste heilige Stadt der schiitischen Moslems ist. Der Tod ist ihr ständiger Reisebegleiter und die Endstation. Er schwebt buchstäblich über ihren Köpfen auf dem Weg nach Wadi al-Salam, das etwa 5 Millionen Grabstätten beherbergt und als weltweit größter muslimischer Friedhof gilt.

Ich treffe zur gleichen Zeit wie Hassan ein. Er ist von Basra mit seinen Brüdern, seiner Frau und den drei Kindern gekommen, um seinen Vater zu beerdigen. Ihr Weg war kein Trauerzug, der viel Zeit für Gefühle gelassen hätte.

„Wir haben nur einmal angehalten auf dem Weg hierhin, fünf Minuten um zur Toilette zu gehen in einer Tankstelle, auf halber Strecke“, sagt Hassan. „Nach Basra sind es fünf Stunden, und in der Hitze setzt die Verwesung des Leichnams schnell ein.“


Hisham hat vor zwei Jahren die Schule geschmissen, um im „Tal des Friedens“ zu arbeiten. Sein größter Wunsch: auch hier beerdigt zu werden.

Hassans Vater wird neben seinem Vater und seinem Großvater liegen, und so Allah will, wird auch eines Tages Hassan den Weg auf einem Autodach hierhin zurücklegen und nach ihm die kommenden Generationen. Der letzte Wunsch eines Schiiten ist es, hier beerdigt zu werden, in der Nähe des Grabes von Ali, dem ersten Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed und nach schiitischer Auslegung dem ersten Imam. Irakische Moslems sind nicht die einzigen Pilger. Seit Tausenden von Jahren strömen an dieser Stätte Gläubige aus dem Iran, aus Bahrain, Aserbaidschan und entfernten Gegenden zusammen.

Es ist schier unmöglich sich vorzustellen, wie viele verwesende Leichname und Gebeine hier unter der Erde zusammengepfercht sind, in einer surrealen vertikalen Reihe übereinander ruhend, die immer länger wird. Wadi al-Salam erstreckt sich gegenwärtig über mehr als drei Quadratmeilen und dehnt sich beständig weiter aus. Um fast 40 Prozent vergrößerte sich seine Fläche nach dem Einmarsch der USA und ihrer Alliierten im Irak 2003. Nach aktuellem Plan sollen die amerikanischen Streitkräfte bis Ende 2011 komplett abgezogen werden. Sie hinterlassen zerstörte Häuser, wütende Moslems und eine frische Schicht Tod, in der obersten Schicht eines Stücks Land, das die Geschichte des Irak mit den Gebeinen der Toten nachzeichnet.

„Wie viele Menschen hier beerdigt sind?“, wiederholt Beyan Shakir Abu Saib meine Frage. „Das könnten Millionen sein. Die Toten wurden über Jahrhunderte in Schichten beigesetzt, einer über dem anderen.”

Das Familienunternehmen Saib ist so alt wie die Grabsteine und bei weitem nicht das einzige, das dem Sensemann seine Dienste anbietet. Sadaw Ubeid etwa verkauft in der der Nähe des Gebäudes, in dem die Leichen gewaschen und einbalsamiert werden, Leichentücher für 10.000 Dinar das Stück, das sind ungefähr 6 Euro. Ein sehr gutes Angebot, sagt Sadaw. In anderen Teilen des Friedhofs verlangen die Händler bis zu 75.000 Dinar, also an die 45Euro für ein gleichwertiges Produkt.


Said und Said kümmern sich um ein Stück Land, das bald mit neuen Gräbern belegt werden wird.

Warum aber hebt Sadaw seine Preise nicht an? „Unser Geschäft leistet humanitäre Hilfe, das Geld kommt von Muqtada al-Sadr’s NGO“, erklärt er. „Armut darf einen Gläubigen nicht daran hindern, seine Angehörigen neben Imam Ali zu bestatten.“ Über ihm hängt ein Porträt von al-Sadr, einem der kontroversesten politischen und religiösen Führer des Irak.

Den Amerikanern dürfte al-Sadr als Befehlshaber und Gründer der Mahdi-Miliz bekannt sein, einer gut organisierten Schiitentruppe, die gegen die Besatzungstruppen, die von den USA gestützte irakische Regierung und andere militärische Einheiten kämpfte, bis sie 2008 aufgelöst wurde.

Die Irakis betrachten al-Sadr jedoch nach wie vor als einen legitimen politischen Führer. Seine Partei erlangte bei den Parlamentswahlen vergangenes Jahr 40 Sitze und versorgte die verarmte Bevölkerung mit Öl, Wasser und Nahrungsmitteln. Es ist also nicht erstaunlich, dass al-Sadr bei den Arbeitern und den anderen noch atmenden Dauergästen des Friedhofs von Wadi al-Salam sehr beliebt ist.

Die Mahdi-Miliz lieferte sich im Sommer 2004 intensive Straßenschlachten in ganz Nadschaf, die sich unvermeidlich auch auf den labyrinthisch angelegten Friedhof ausdehnten. Die US-Truppen teilten die Heiligenstätte in Sektoren, die sie nach Stadtbezirken von New York benannten—nicht gerade ein Beitrag zur moralischen Stabilisierung der Situation. Aufständische nutzten unbemerkt ein unterirdisches Wegenetz zwischen den Gruften von „Queens” und der „Bronx” und feuerten Handgranaten auf Bradleypanzer und amerikanische Geländewagen ab. Die deutsche Übersetzung von Wadi al-Salam in „Tal des Friedens” wirkte in diesen Tagen wie bittere Ironie.

In einem anderen Teil der Totenstadt treffe ich zwei Männer, die heute in einem Areal beschäftigt, das für nicht identifizierte Leichname vorgesehen ist.


Plastikblumen, Parfumflaschen und die Flagge von Imam Ali zieren fast jedes Grab von Wadi al-Salam.

„Die sind fast alle Opfer von Selbstmordattentaten“, sagt der ältere Said über die namenlosen Toten. „Die kommen alle erst einmal hierhin. Manchmal werden sie identifiziert und woanders hingebracht, vor allem wenn es Sunniten oder Christen sind.“ Die Zahl der unidentifizierten Leichen ist seit den schlimmsten Kriegsjahren stark gesunken, ergänzt der jüngere Said. Vor allem in den Gebieten, auf die US-Truppen angeblich weiße Phosphorbomben abgeworfen hatten. Obwohl die USA abstreiten, die tödlichen Antipersonenminen gegen irakische Zivilisten eingesetzt zu haben (nachdem sie deren Einsatz zunächst komplett geleugnet hatten), waren Bewohner einiger Orte wie etwa Falludscha irgendwie mit dieser Substanz in Berührung gekommen. Mit verheerenden Folgen.

In der Totenstadt lebt eine abgeschiedene Gruppe. Sie hat sich eingerichtet mit eigenen Arbeitskräften, Taxis und einem Netz von Straßen und Alleen. Die Taxifahrer müssen angesichts eines zunehmend gesättigten Marktes für ihr Überleben hart arbeiten. Die Straßen sind übersät mit liegen gelassenen Plastikparfumfläschchen—Hinterlassenschaften der Begräbnisrituale. Für die Händler ist die lokale Wirtschaft in mehrerer Hinsicht ein düsteres Terrain.

Ali Abdul Hassan, 32, hat im Alter von zwölf Jahren begonnen, als Totengräber zu arbeiten. Chronische Rückenschmerzen zwangen ihn irgendwann seinen Beruf zu wechseln. Er verkauft jetzt Weihrauch und die erwähnten pinkfarbenen Parfumfläschchen für die Zeremonie.


Familiengräber zeichnen die Geschichte der Kriege und Naturkatastrophen des Irak nach. Das Porträt im Vordergrund stellt einen der vielen Männer dar, die im Ersten Golfkrieg 1980–1988 umgekommen sind.

„Ich komme um 5 Uhr morgens an und arbeite, bis die Sonne untergeht“, erzählt Ali. „Pro Tag nehme ich etwa 15.000 Dinar [etwa 9 Euro] ein. An einem Feiertag kann es auch schon einmal das Doppelte sein. Meine Frau wohnt mit unseren acht Kindern in einem gemieteten Zimmer. Das ist alles, was wir uns leisten können.“

Nadschafs Parfumindustrie ist gnadenlos. Später lernte ich Hishma kennen, ein 14-jähriger Parfumverkäufer, der ebenfalls über seinen mickrigen Verdienst klagt. „Wenn ich eines Tages genug gespart habe, dann versuche ich Soldat oder Polizist zu werden. Das Problem ist nur, wenn du keine Kontakte hast—also Verwandte, die für die Regierung arbeiten—dann musst du schon 1.000 Dollar für die Bewerbung hinlegen. Und es gibt überhaupt keine Garantie, dass sie dich nehmen.“

Angesichts der Alternativen will fast jeder in irgendeiner Funktion bei der irakischen Regierung angestellt sein. Die herrschende Korruption wiederum ist wie eine Seuche und unberechenbarer als der Tod.

Glücklicherweise ist der junge Hishman fähig, die Dinge in ein positives Licht zu rücken und sich seinem Schicksal gelassen zu fügen: „Wusstest du, dass es Engel gibt, die die Körper von Toten, die hier nicht beerdigt werden sollten, wegtragen? Vor einer Weile wurde hier ein Grab geöffnet und es war leer. Es kann auch andersherum passieren. Wenn du ein guter Moslem warst und an einem anderen Ort begraben wurdest, werden die Engel dich hierhin bringen. Aber ich möchte hier sterben, in Wadi al-Salam.”