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Ich dachte, das Oktoberfest sei scheiße – aber ich liebe Trash

Die Autorin trinkt auf der Wiesn eine Maß Bier und entledigt sich später im Club ihrer warmen Kleidung

Ich stehe an einer verlassenen Straßenecke irgendwo in München. Wegen des Regens ist mein Dirndl komplett durchnässt. Ich wurde gerade von einem Typen stehengelassen, den ich auf dem Oktoberfest – genauer gesagt auf dem Kotzhügel – kennengelernt hatte. Eigentlich bleiben mir jetzt nur zwei Optionen.

Ich kann mich entweder für meine dummen Entscheidungen an diesem Tag schämen: Ich habe mich von einem Fremden überreden lassen, bei ihm abzuhängen, nur um später mit einer fadenscheinigen Ausrede zurückgelassen zu werden. Oder ich kann 30 Euro für ein Taxi bezahlen und noch in einen Club gehen.

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Ich entscheide mich für den Club. Und ich glaube, damit ganz im wahren Spirit des Oktoberfests zu handeln.


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Aber spulen wir doch zurück zum Anfang meines Oktoberfest-Abenteuers. Ich weiß nicht viel über dieses jährlich stattfindende, 16 Tage andauernde Bierfest in München, denn ich komme aus Kanada. Aber was ich weiß, stimmt mich nicht gerade freudig. Vor allem, weil ich schon 32 bin. Viele meistens Weiße Hetero-Typen trinken sich besinnungslos, junge Menschen zeigen sich von ihrer schlechtesten Seite, riesige Menschenmengen, überall lange Warteschlangen, Trachten und extrem überteuertes Essen und Trinken.

Da mein zweimonatiger Aufenthalt bei VICE Deutschland aber bald vorbei ist, schlage ich der Redaktion trotzdem vor, aufs Oktoberfest zu gehen. Für mich hat das Ganze das Potenzial, zu einer weiteren lustigen “Ich bin hier vollkommen fehl am Platz”-Story zu werden – wie damals, als ich bei einem Nickelback-Konzert war oder einer psychedelischen Kommune beitrat. Zudem bin ich neugierig, wie es in einem eher konservativen Teil Deutschlands zugeht. Bis jetzt habe ich mich ja nur in meiner Berlin-Blase voller wunderschöner Weirdos bewegt.

Meine deutschen Kollegen und Kolleginnen sind einerseits begeistert von meinem Vorschlag. Andererseits sind sie selbst keine großen Fans des Oktoberfests: “Ich meide diese Veranstaltung, so gut es geht”, sagt einer, “Ich hasse die Wiesn”, eine andere.

Bevor es für mich südwärts geht, muss ich mich vorbereiten.

Ein wirklich schönes Dirndl kostet eine Berliner Monatsmiete

Wie es auf der offiziellen Seite der Veranstaltung heißt, fand das Oktoberfest am 17. Oktober 1810 anlässlich der Hochzeit von Kronprinz Ludwig von Bayern und Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen zum ersten Mal statt. Das Ganze wurde in den darauffolgenden Jahren wiederholt und entwickelte sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu dem Volksfest mit Bierzelten und verschiedenen Karussells, das wir heute kennen. Inzwischen ist die Wiesn mit jährlich mehr als sieben Millionen Besuchern das größte Bierfest der Welt. Es gibt 14 große Zelte, die von sechs Brauereien betrieben werden und Platz für mehr als 100.000 Gäste bieten. Und ohne Platz gibt es auch kein Bier.

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Der Eingang zur Wiesn

Wer aufs Oktoberfest geht, sollte am besten in Tracht erscheinen. Das heißt: Lederhosen für die Männer, Dirndl mit Bluse und Schürze für die Frauen. Meine erste Aufgabe besteht also darin, mir ein Dirndl zu besorgen.

Als ich das Trachtengeschäft betrete, mustert mich eine Verkäuferin argwöhnisch und sagt mir anschließend, dass die Sale-Artikel draußen hingen. Autsch, mein persönlicher Pretty Woman-Moment. Aber sie hat ja Recht. Hochwertige Dirndls kosten bis zu 600 Euro. Und selbst die runtergesetzten Exemplare liegen mit 130 Euro immer noch außerhalb meines Budgets. Trotzdem probiere ich mich mal durch.

Die Autorin bei der Dirndl-Anprobe
Dirndl sind verdammt teuer

Weil Dirndl nach oben hin eng geschnitten sind, machen sie oft eine gute Figur mit schlanker Taille und hochgedrücktem Busen. In meinem Lieblingskleid sehe ich aus wie ein dunkelhäutiges Schneewittchen.

Ich habe jedoch keine Lust, eine Berliner Monatsmiete für ein Kleidungsstück auszugeben, das ich nur einmal anziehen werde. Also geht es weiter in günstigere Läden, wo ich einige wirklich schreckliche Dirndl anprobiere – eines davon scheint aus einem pinkfarbenen Müllbeutel geschneidert zu sein. Schließlich entscheide ich mich für ein rotes Kleid, das mich 60 Euro kostet. Dazu ziehe ich mein eigenes langärmliges Oberteil an. Als ich meinem Freund ein Foto meines Outfits schicke, antwortet er: “Du siehst aus, als hättest du einen harten Tag Arbeit vor dir.”

“Irgendwie stelle ich mir so den St. Patrick’s Day in der Hölle vor”

Bevor ich mich zur Theresienwiese aufmache, hole ich mir ein paar Ratschläge von Münchnern und Münchnerinnen. Einer von ihnen ist kein großer Fan der Wiesn und beschreibt die Veranstaltung als “abgefuckt, verrückt und manchmal ein bisschen schön”.

“Als Mann musst du auf Leute aufpassen, die dich ohne Grund niederschlagen wollen. Als Frau musst du auf Leute aufpassen, die dich überall begrapschen“, warnt er mich. “Am Abend wird es noch schlimmer. Und besonders in Acht nehmen sollten sich die Frauen, die ein Dirndl mit großem Ausschnitt tragen.”

Außerdem erzählt er mir, dass man sich als Single outet, wenn der Knoten der Schürze auf der linken Seite sitzt. Wenn der Knoten rechts gebunden ist, ist man hingegen vergeben. Ich knote meinen in der Mitte.

Zudem soll ich mich besser vom sogenannten Kotzhügel fern halten. Dabei handelt es sich um eine abschüssige Wiese im Westen des Geländes, auf der betrunkene Wiesngänger und -gängerinnen eben kotzen – oder Sex haben.

Als ich die ersten Männerhorden in Lederhosen sehe, nehme ich unweigerlich eine defensive Haltung ein. Die Stimmung erinnert mich an eine typische Spring-Break-Party. Irgendwie stelle ich mir so den St. Patrick’s Day in der Hölle vor.

Nach einer ziemlich unangenehmen U-Bahn-Fahrt mit erstaunlich wenigen Mitfahrenden in Trachten hole ich mir für den Fußweg zur Theresienwiese noch ein Bier, um mir Mut anzutrinken. Ich gehe an einigen Polizei-Bussen vorbei, aus denen Musik dröhnt. Ein Mann mit Pferdemaske macht seine eigenen Techno-Beats. Und ein Typ ist als Chucky die Mörderpuppe verkleidet.

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Chucky und ich

Kurz darauf bekomme ich mit, wie ein Weißer Typ beim Anblick mehrerer Schwarzer Frauen ganz laut “Black Girls!” schreit. Mein Magen zieht sich zusammen.

Mit meiner Riesenrad-Bekanntschaft versuche ich, in eines der Zelte zu kommen

Zuerst will ich einen Überblick über das Veranstaltungsgelände bekommen. Also krame ich acht Euro zusammen und stelle mich beim Riesenrad an. Schnell komme ich mit einer Gruppe junger Menschen ins Gespräch: Einer von ihnen, ein Brite, rempelt mich rückwärts an und schreit, weil ihn sein Kumpel in die Weichteile getreten hat. Oben angekommen beginnt der betrunkene Brite mit den schmerzenden Eiern, ganz laut “Guten Tag” zu schreien und seinen Freund als verdammtes Alki-Vierauge zu beschimpfen. Zum Glück habe ich mich für diesen Abend gegen meine Brille entschieden.

Von meinem Aussichtspunkt aus sehen die riesigen Bierzelte eher aus wie Lagerhäuser. Und die Neonlichter der verschiedenen Fahrgeschäfte knallen in den buntesten Farben. Auf dem breiten Weg zwischen den Zelten bewegt sich ein stetiger Menschenstrom. Ich muss mich da jetzt hineinstürzen und mehr Alkohol trinken, wenn ich den Abend überleben will.

Das Oktoberfest von ganz oben
Das Oktoberfest von ganz oben

Wieder unten angekommen mache ich mich zusammen mit einer Riesenrad-Bekanntschaft auf die Suche nach einem Platz in einem der Bierzelte. Ich merke, dass mein Begleiter schon ordentlich voll ist, denn seine Augen sind blutunterlaufen und er stellt mir alle zwei bis drei Minuten die gleichen Fragen: Wie lange bist du schon in Europa? Fühlst du dich hier wohl? Wie findest du das Oktoberfest?

Nachdem wir an einem der beliebteren Zelte direkt abgewiesen werden, finden wir im Außenbereich vor dem Löwenbräu-Zelt ein paar Leute, die bereit sind, ihren Tisch mit uns zu teilen. Weil mir die Schweinshaxe für 20 Euro zu teuer ist, entscheide ich mich für Würstchen und Kartoffelsalat als Beilage zu meiner ersten Maß Bier.

Eine der Frauen, die mit mir am Tisch sitzen, ist eine Polin, die in München als Barkeeperin tätig ist. Sie erzählt mir, dass sie es hasse, während des Oktoberfest zu arbeiten. “Die Leute trinken dann immer zu viel Alkohol, sie sind zu besoffen. Und dann geben sie kein gutes Trinkgeld mehr”, sagt sie.

Stephan, ein 19-jähriger Münchner, der Ingenieurwesen studiert, sagt mir, dass er für seine Lederhosen-Weste-Kombi 600 Euro gezahlt habe. Trotzdem sei das Oktoberfest nichts Besonderes, wenn man in München lebt. “Es ist jedes Jahr das Gleiche. Eigentlich steigen immer nur die Preise.”

Stephan empfiehlt mir, in ein Zelt zu gehen, um das Oktoberfest richtig zu erleben. Als ich ihn frage, was zur wahren Wiesn-Erfahrung noch alles dazugehört, sagt er aber: “Zusammensitzen und trinken.” Und das machen wir ja schon.

Stephan wirkt überrascht, als ihm erzähle, wie gut mir Berlin gefällt. “Ich finde Berlin richtig hässlich”, sagt er. “Überall ist es dreckig. Und jeder will dir Drogen verkaufen.”

Im Laufe des Abends werde ich solche Kommentare über die deutsche Hauptstadt noch öfter hören. Ich frage mich, ob zwischen Berlin und München eine Art Rivalität herrscht. Denn niemand aus Berlin schien ja irgendein Interesse am Oktoberfest zu haben. Manche haben die Veranstaltung gar verteufelt.

Später komme ich mit Bernhard ins Gespräch, einem 58-jährigen Bayern und begeisterten Bergsteiger. Als ich ihm erzähle, dass ich aus Kanada komme, zeigt er mir das Haida-Tattoo auf seinem Arm. Ich frage ihn, was er alles über den Volksstamm wisse. Seine enttäuschende Antwort: “Nicht viel. Ich finde nur das Symbol cool.”

Wie Bernhard über die Jahre beobachtet hat, trinken die Touristen auf dem Oktoberfest wohl nicht so wie die Bayern. Vor allem die Kanadier und Australier mischten Schnaps mit Gras, was nie gut ausginge. Na toll, jetzt werde ich auch noch mit Australiern in einen Topf geworfen.

Wie Bernhard erzählt, haben die Frauen im Hofbräu-Zelt (was unter Münchnern als verrohtes Touri-Zelt verschrien ist) früher ihre Unterhosen ausgezogen und in Richtung Decke geschmissen. “Das war wie ein Striptease, man konnte auch die Muschi sehen”, sagt er. Irgendwann sei aber damit Schluss gewesen, weil es zu viel Ärger machte.

“Betrunkene Männer können nicht mehr zwischen Spaß und sexuellen Avancen unterscheiden”, fügt Bernhard hinzu. Das klingt erstmal ziemlich ungeschickt formuliert, aber ich glaube, er übt damit Kritik an den Männern und nicht an den Frauen.

Auf der Toilette bin ich richtig überrascht davon, wie sauber alles ist. Als ich zurück zu meinem Platz will, muss ich jedoch gehen, weil es schon 22:30 Uhr ist und das Zelt dicht macht. Zuerst ärgere ich mich, weil ich es ja noch nicht in eines der Zelte geschafft habe. Aber dann fällt mir ein, dass ich morgen ja noch mal auf der Wiesn unterwegs bin.

Anstatt nach Hause zu gehen, ziehe ich mit dem Typen, der mir ständig die gleichen Fragen gestellt hat, weiter in eine Bar. Dort entledige ich mich erstmal einiger Klamottenschichten und gehe tanzen.

Später diskutiere ich mit einem Typen, der mich die ganze Zeit anbaggert, über Drogenpolitik und Abtreibungen. Dann rede ich mit ein paar jungen Deutschen, die gerne ein bisschen Gras kaufen würden, aber Angst vor der strengen Münchner Polizei haben. Auch mir ist schon zu Ohren gekommen, dass die Beamten in Bayern schon den Besitz von geringen Mengen Marihuana wie ein schweres Vergehen behandeln. Wie gerne wäre ich jetzt wieder in Berlin oder Kanada. Um vier Uhr lande ich schließlich wieder in meinem Hotel.

“Dann exe ich den Rest meiner Maß und denke darüber nach, einen späteren Flug zurück nach Berlin zu nehmen”

Am nächsten Tag begebe ich mich wieder in Richtung Theresienwiese. Weil mein Kater aber zu heftig ist, setze ich mich erstmal vor das Gelände und nippe eine halbe Stunde lang an meinem Bier. Ein Typ macht ab und an eklige Kussgeräusche in meine Richtung.

Ich treffe nicht mit einer Bekannten, die gerade in München ist. Zusammen gehen wir in eins der Zelte und bekommen dort einen Platz neben einer Gruppe Schweizer. Ich will von den Männern wissen, warum sie das Oktoberfest so mögen. Jede der Antworten hat irgendetwas mit Bier zu tun.

“Warum soll es hier eklig sein? Man kann Bier trinken und Hähnchen essen”, sagt einer von ihnen. Ich habe das Gefühl, hier keine tiefgründigen Antworten mehr zu bekommen. Der Enthusiasmus ist allerdings ansteckend. Ich stelle mich zusammen mit ihnen auf die Bank und singe die Biertrinker-Hymne “Ein Prosit” mit. Dann exe ich den Rest meiner Maß und denke darüber nach, einen späteren Flug zurück nach Berlin zu nehmen.

Die Autorin mit einer Gruppe Schweizer
Die Schweizer und ich

Da lerne ich auch den 29 Jahre alten Pariser Cedric kennen, der mir erzählt, dass er eigentlich aus Kamerun stamme. Er ist zum ersten Mal auf dem Oktoberfest und findet es laut eigener Aussage super, hier auf das hardcore-konservative München zu treffen.

Cedric ist einer der wenigen Schwarzen Menschen, die ich auf der Wiesn sehe. Ich frage ihn, ob er wegen seiner Hautfarbe nervös gewesen sei, als er das Festgelände voller besoffener Weißer betrat.

“Nach einer Weile denkt man gar nicht mehr darüber nach”, antwortet er. “Dann versteht man die Faszination und die interessanten Aspekte des Oktoberfests viel besser.”

Die Autorin lässt sich mit einer Bekanntschaft eine Brezel schmecken
Cedric und ich lassen uns eine Brezel schmecken

Cedric will, dass ich bleibe und einen Freitagabend auf der Wiesn erlebe. Aber niemand will eine besoffene Kanadierin über Nacht bei sich aufnehmen. Dann zeigt mir mein Handy jedoch einen 6-Uhr-Flug nach Berlin an. “Eigentlich brauche ich doch gar keinen Schlafplatz”, denke ich mir, “ich gehe einfach wieder bis vier Uhr morgens feiern und fahre dann direkt zum Flughafen.”

Ja, das Oktoberfest steht für viele Dinge, die ich nicht mag, aber wenn man sich mental darauf einlässt, kommt man damit klar. Wenn man akzeptiert, dass sich das nicht vermeiden lässt, dann kann man auch ordentlich Spaß haben. Und mit genügend Alkohol kommen auch einige interessante Gespräche zusammen. Trotzdem werde ich wohl nicht noch mal aufs Oktoberfest gehen.

Mein Kotzhügel-Abenteuer

Zum Abschluss meiner Wiesn-Erfahrung laufe ich doch noch mal zum Kotzhügel, wo fünf Polizisten gerade vergeblich versuchen, einen speienden Mann aufzurichten. Überall machen betrunkene Pärchen rum.

Links vom kotzenden Kerl erblicke ich dann den am Anfang erwähnten Typen. Ich sage ihm, dass ich noch in einen Club will. Er ist dabei, sagt aber, dass der Club erst in einer Stunde aufmache und wir deshalb erst mal zu ihm gehen sollten.

Anstatt zu googeln und diese Lüge aufzudecken, folge ich dem Typen in eine ruhige und reich wirkende Gegend, in der sich ein beeindruckendes Haus an das nächste reiht. Kurz bevor unser Taxi in den Club kommt, sagt er, dass er sein Bargeld vergessen habe und gleich wieder da sei.

Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Wieder zurück in Berlin, gehe ich eine Woche später mit einem Kumpel ins Berghain. Nach meinem Abenteuer auf der Wiesn ist das fast schon entspannend.

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