Es ist acht Uhr morgens an einem Samstag, zwei Ratten buddeln auf einem Parkplatz Löcher in die Erde, als Rafaela sagt, dass sie an die große Liebe glaubt. Sie ist 52, raucht Zigarillos von Pall Mall, ihre Nägel sind rot lackiert, ihre Lippen rot geschminkt und aus ihrer Bluse schaut ein roter BH mit schwarzer Spitze. In den letzten Stunden hat sie nur mit einem Mann geschlafen, in den meisten Nächten sind es fünf, manchmal acht oder noch mehr. Sie arbeitet auf der Kurfürstenstraße, Berlins größtem Straßenstrich. “Irgendwo da draußen ist er, mein Traummann”, sagt sie. “Und wenn wir uns treffen, wird mir ganz warm, selbst wenn es 25 Grad minus hat. Kennst du, oder?” Rafaela lacht laut, tief und viel. Manchmal klingt es, als würde sie husten. Sie sagt, sie sei Optimistin. “Bringt ja nichts.“
Wir kennen uns 24 Stunden, als sie das sagt. Sie war die ganze Zeit wach, trank Kaffee, Wodka und Bier, hatte Sex gegen Geld, rauchte und warf Kleingeld in Spielautomaten. Wenn ihr Gesicht zu müde wurde, bedeckte sie es mit einer weiteren Schicht Make-up. Aber jetzt ist es blass, der Lippenstift ist abgeblättert. Ich war ebenso lange wach wie sie, um den Ort zu verstehen, an dem sie arbeitet. Auf der Kurfürstenstraße, mitten in Berlin zwischen Potsdamer Platz, Tiergarten und KaDeWe, sollen Väter ihre Töchter für ein paar Euro verkaufen und manche Frauen ihren Körper für eine Flasche Bier – das erzählt ein Mann, der in der Straße ein Café führt.
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In den vergangenen Stunden traf ich einen Freier, der zu weinen begann. Ich betrat Ecken, die so sehr nach Kot und Urin riechen, dass ich mir die Nase zuhalten musste. Zwischen dem Müll hatte eine schwangere, obdachlose Prostituierte mit einem Mann Sex. Ich traf einen 78-Jährigen, der täglich auf einem Klappstuhl sitzend Prostituierte beobachtet. Eine Frau, die, seit sie 12 ist, ihren Körper verkauft. Und eben Rafaela, deren Lieblingsfilm Pretty Woman ist – Millionär verliebt sich in arme Prostituierte und rettet sie aus ihrem Elend.
Am Freitagmorgen um 8 Uhr, 24 Stunden bevor sich Rafaela verabschiedet, um am Straßenrand wieder auf den nächsten Kunden zu warten, sitzt sie vor dem Bistro “Adler” und trinkt Kaffee aus einem Pappbecher. In der Theke liegen kalte Buletten, an den Wänden hängen nackte Frauen-Oberkörper aus Metall. Mit 18 habe sie begonnen, sich zu prostituieren, erzählt Rafaela, aber erst seit Kurzem ist sie wieder auf der Kurfürstenstraße unterwegs. Die vergangenen sieben Jahre fuhr sie mit Kehrmaschinen durch die Straßen Berlins, es sei ihr Traumjob gewesen, sagt sie. Doch dann verliebte sie sich in einen Mann, der sich als IT-Fachmann ausgab, aber eigentlich Hartz-IV-Empfänger war, der sie um immer mehr Geld bat, mal für eine Jacke, mal für eine Musikanlage. “Ich dachte, wenn ich wieder hierherkomme, habe ich die Kohle ratzfatz zusammen.” Sie zog zu ihm. Als er zugab, dass er gar keinen Job hatte, und sich Rafaela von ihm trennte, wurde sie obdachlos. Gerade teilt sie sich mit einer Kollegin ein Zimmer in einer Pension. Jetzt kommt sie wieder häufiger zur Kurfürstenstraße.
Vor dem Bistro Adler läuft um 8 Uhr morgens nur eine Prostituierte um die 50 im kurzen schwarzen Kleid die Straße auf und ab. Drinnen, in der hintersten Ecke, wirft eine blonde Frau in Hotpants eine Münze nach der anderen in einen Spielautomaten. Neben ihr steht eine durchsichtige Obst-Plastikschale bis oben voll mit 20-Cent-Stücken. Eine andere Frau schläft zusammengekauert auf einem Stuhl, ihre blonde Perücke ist verrutscht, der Schädel darunter kahl, ihre Feinstrumpfhose hat Laufmaschen. “Schau dir das alles an”, sagt ein Mann, der sich als Toni vorstellt. Er klingt verächtlich. Dabei ist er seit 20 Jahren selbst Teil dieser Welt. Seitdem er 18 ist, kommt er in die Kurfürstenstraße. Für 25 Euro lasse er sich hier ein paar Mal im Monat einen blasen. Toni trinkt Rum Cola aus einer Dose. Nachts arbeitet er als Kellner, tagsüber schläft er. Sonnenlicht, sagt er, halte er schon lange nicht mehr aus.
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Toni kam mit 17 aus Algerien nach Deutschland, in einem Boot über das Mittelmeer. Um die 2.000 Euro habe sein Vater dem Schlepper gezahlt.
“Was gibt es Schönes in deinem Leben?”, frage ich.
“Mein Hobby ist Analsex”, antwortet er, “darauf stehe ich total.”
Dann kommt eine korpulente Frau um die 50 in Leggins mit Eimer und Wischmopp in den Raum. “Alle raus, ich muss jetzt hier sauber machen.”
9 Uhr, Rafaela zeigt mir eine Tiefgarage voller Müll und viel Scheiße
“Komm ich zeig dir mal die richtig schönen Ecken”, sagt Rafaela und meint die schlimmsten. In den 70ern war die Gegend rund um die Kurfürstenstraße ein Strich für Drogenabhängige, später kamen Frauen aus Osteuropa dazu. Heute reden Politiker und Politikerinnen davon, Prostitution auf der Straße zu verbieten oder Dixiklos und Verrichtungsboxen aufzustellen. Immer mehr Anwohner beschweren sich über Sex in Hinterhöfen, Hauseingängen und Gebüschen. Denn dort, wo früher Parkplätze waren, auf denen Prostituierte ihre Kunden trafen, bauen heute Immobilienfirmen Luxus-Wohnhäuser. Das neueste trägt den Namen “Carré Voltaire”. Ein einziger Quadratmeter in einer der Wohnungen kostet mindestens 5.000 Euro, Sex ein paar Meter weiter oft nicht mal 50 Euro.
Rafaela läuft in den Hinterhof eines der verbliebenen alten Wohnhäuser, mit Satellitenschüsseln an den Balkonen und einer Fassade, die aussieht, als hätten Bauarbeiter sie vor 60 Jahren eilig aus alten Betonplatten zusammengedübelt. Auf dem Asphalt liegen Spritzen, Kondome, ein roter Frauenslip, leere Zigarettenpackungen, Pappbecher und menschliche Scheißhaufen. Rafaela geht eine Tiefgaragenausfahrt hinunter, es stinkt nach Kot, Urin und Müll. Sie stellt ihren Papp-Kaffeebecher auf einer Mauer ab: “Den kann ich jetzt nicht mehr trinken.” Ein paar Minuten später hebt sie eine Bürste auf, die dort im Müll liegt, und steckt sie in ihre Tasche.
Jemand hat das Tor zur Tiefgarage mit Brettern zugenagelt, ein anderer brach es wieder auf und irgendwer machte hier ein Feuer. Rafaela erzählt, dass in die Tiefgarage bloß Osteuropäerinnen kommen, die die Preise kaputt machen. Manche würden für Sex gerade mal 20 Euro verlangen. Sie selbst nehme 50 für eine halbe Stunde und treffe ihre Freier in Pensionen oder im Auto.
Anfang der 80er habe Rafaela von ihrem ersten Freier 150 Mark bekommen, damals war sie 18 Jahre alt. Sie hatte eine Anzeige in der Berliner Zeitung gelesen: “Modell für Hausbesuche gesucht.” Rafaela rief an, sie habe schnell verstanden, dass die Dame am Telefon kein Modell sucht. Trotzdem sagte sie zu, am nächsten Tag vorbeizukommen. 34 Jahre später fällt es Rafaela schwer, das Ganze zu erklären. “Ich stand ewig vor der Tür, bis ich mich getraut habe zu klingeln.” Aber dann tat sie es. Eine Dame führte sie in einen Salon, in dem sich die Männer die Frauen aussuchten. Der erste, der reinkam, wählte sie. “Dabei sah eine schöner als die andere aus. Und ich kam mir vor wie Muttis Schwester.” Sie erzählte dem Mann, dass sie das noch nie gemacht habe. Und er erklärte ihr, was sie tun solle. “Ich habe ihn die ganze Zeit gesiezt. Ich lag auf dem Bett wie ein Steiff-Tier.” Beim zweiten Gast sei sie schon Profi gewesen. Am Ende des Tages hatte sie 500 Mark verdient. “In der U-Bahn dachte ich, alle sehen, was ich gemacht habe. Ich bin nach einer Station ausgestiegen und gelaufen.”
11 Uhr – “Ich will einfach bloß ficken”, sagt Tom
Etwa eine Stunde später läuft ein Typ – nennen wir ihn Tom – mit einer Frau die vollgeschissene Tiefgaragenausfahrt hinunter. Tom trägt ein kariertes Hemd, Armyhosen, ist 27 und kommt aus dem Kongo. Die Frau neben ihm hat schwarze Haare, rote Lippen, ihre Augenbrauen sind mit einem dunklen Stift nachgezogen. Die beiden verbringen sieben Minuten dort unten. Danach setzt er sich vor eine Kneipe und trinkt ein Beck’s.
“Wie war’s?”, frage ich.
“Cool”, antwortet Tom. “Ich wollte einfach ficken.” Er klatscht den rechten Handrücken in die linke Handfläche. “Einfach nur ficken. Ohne Respekt.”
“Und wie war’s für die Frau?”
“Sie hat gesagt, dass ich einen großen Schwanz habe.”
Es ist 11 Uhr vormittags. Tom bestellt noch ein Beck’s, an die zehn habe er heute schon getrunken, sagt er. Dann erzählt er, dass er noch nie eine richtige Freundin hatte: “Ich weiß nicht, was Liebe ist”, sagt er. Plötzlich läuft ihm eine Träne über die Wange.
“Ich komme oft hierher, aber das ist kein Ort, der dich glücklich macht.” Fünf Stunden später sitzt er immer noch vor der Kneipe und trinkt.
Für Männer wie Tom, sagt Gerhard Schönborn, habe er kein Verständnis: “In jedem von ihnen steckt ein Vergewaltiger.” Schönborn ist 56 Jahre alt, trägt ein blaues Kurzarmhemd und Funktionsschuhe mit Löchern an den Seiten, damit die Füße durchlüften. Er gründete vor zehn Jahren das Café Neustart in einem Altbau in der Kurfürstenstraße. Frauen bekommen hier kostenlos Nudelsalat und Käseschnittchen – und Hilfe, wenn sie weg vom Strich wollen. Gerade schlafen vier von ihnen aber bloß in schwarzen Sesseln und eine auf dem Sofa, die Frau ist korpulent, um die 40 und schnarcht ein bisschen. Auf einer kleinen Tafel steht in Kreideschrift: “Weder Leben noch Tod können uns trennen von der Liebe Gottes.” Es gibt eine Box, in die die Frauen Gebete stecken können. Sein Ziel sei nicht, die Frauen zu missionieren, sagt Schönborn, sondern ihnen zu helfen. Bei etwa fünf bis zehn Frauen arbeite sein Team gleichzeitig daran, sie vom Strich wegzuholen, manchmal klappe es – meistens durch einen Putzjob und eine eigene Wohnung. “Aber das passiert viel zu selten.”
Seine Gemeinde, eine Freikirche, liegt auch auf der Kurfürstenstraße. “Wenn man aus dem Gottesdienst rausgeht und dann sieht man das alles, das macht was mit einem.” Er erzählt von den Porschefahrern, die sich extra die Frauen aussuchen, die obdachlos sind, keine Zähne haben und müffeln. “Weil sie wissen, dass diese Frauen für ein paar Euro alles mit sich machen lassen.” Viele Freier fordern Sex ohne Kondom. Häufig würden die Frauen krank oder schwanger. Trotz alldem wolle er nicht, dass Prostitution auf der Kurfürstenstraße verboten wird. Das Problem verlagere sich dann nur an den Rand Berlins. “So ist es eine Wunde mitten im Herz der Stadt.”
Rafaela sagt, sie hätte nichts dagegen, wenn der Strich auf der Kurfürstenstraße verschwinden würde: “Es wird alles immer schlimmer.” Selbst untereinander würden sich die Frauen nicht vertrauen. “Wenn du mal nach einem Kondom fragst, schütteln alle nur den Kopf. Ich frage mich, wie die arbeiten, waschen die’s immer wieder aus oder was?” Trotzdem wird sie ein paar Stunden später mit bloßen Händen in einer Mülltonne wühlen, um den verloren gegangenen Geldbeutel einer Kollegin zu suchen.
Es ist 12 Uhr, Rafaela sitzt im Café Nil, rund 70 Meter von Gerhard Schönborns Café entfernt, auf einem Barhocker. Drei, vier Prostituierte stehen ab Mittag gegenüber an einer Straßenecke vor einem leerstehenden Geschäft. Im Café Nil gibt ein alter glatzköpfiger Mann hinter der Theke Rafaela einen Kaffee aus. Später erzählt der Inhaber, dass er hier eigentlich keine Prostituierten reinlasse, bloß Rafaela. Das Café Nil ist das einzige Lokal auf dem Strich, bei dem sich die Toilettentüren absperren lassen. Bei allen anderen ist das Schloss ausgebaut – aus Angst, jemand könnte dort an einer Überdosis sterben.
Sandra kotzte ihrem ersten Freier auf die Hose – damals war sie 12
Am Nachmittag, gegen 15:30 Uhr, verlässt Sandra das Haus, um mit der Arbeit zu beginnen. Sie ist Anfang 30 und hat nur noch ihren linken Schneidezahn in ihrem Oberkiefer, er ist braun. Sie trägt schwarze Hotpants, einen schwarzen BH und darüber einen knielangen, schwarzen, durchsichtigen Mantel. Ihre Brille ist eckig, ihre Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bevor sie ihren ersten Freier trifft, will sie zur Eisdiele um die Ecke für zwei Kugeln – Vanille und Stracciatella. Sandra wuchs in Neustrelitz auf, einer 20.000-Einwohner-Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Vater war gestorben, mit den neuen Freunden ihrer Mutter gab es nur Probleme. Einer, sagt sie, habe versucht, sie zu missbrauchen. Mit 12 Jahren haute sie von zu Hause ab. Sie lebte auf der Straße, kiffte und trank. Und dann hielt ihr ein Bekannter ein Stück Alufolie hin, erhitzte es mit einem Feuerzeug und sie zog mit einem Röhrchen zwischen ihren Lippen den Rauch ein: “Ich dachte, das wäre wie Kiffen.” Auf der Folie lag Heroin. Kurz darauf, sie war immer noch 12 Jahre alt, begann sie, sich zu prostituieren.
Die Sucht kostete sie immer mehr Geld. Beim Betteln dauerte es zehn Stunden, bis sie 100 Euro verdient hatte. Auf dem Strich schaffte sie das manchmal in zehn Minuten. Ihr erster Freier wollte, dass sie ihm einen bläst, Sandra kotzte ihm auf die Hose. Das Geld gab er ihr trotzdem. “Ich hatte Glück”, sagt sie. Das Eis in ihrem Becher hat sie noch nicht angerührt, die beiden Kugeln zerfließen zu gelber Soße. Sandra sagt, sie würde gerne weg vom Strich, aber noch brauche sie das Geld. Auch mit dem Heroin würde sie gerne aufhören, aber noch schaffe sie es nicht ganz. Ein Arzt verschreibt ihr Substitutionsmittel, dazu raucht sie trotzdem weiter, aber weniger als früher, sagt sie. Sandra schlürft die Eissoße aus dem Becher. Dann geht sie zurück zur Kurfürstenstraße.
Rafaela sitzt jetzt vor der Bar “Kurfürsten”. Innen hängen eine Discokugel und zwei lange Klebebandstreifen an der Decke, Fliegenfänger, an denen tote Insekten pappen. Drei Gläser Wodka Energy stehen vor Rafaela auf dem Tisch. Sie trinkt mit Claudia, 42, wasserstoffblondes Haar, in beiden Nasenflügeln ein Ring. Claudia bestellt Wodka und mischt ihn mit Eistee aus einer Flasche, die unter dem Tisch steht. Rafaela und Claudia unterhalten sich darüber, wer in letzter Zeit alles gestorben ist: Erst vor ein paar Tagen habe eine Osteuropäerin bei der stinkenden Tiefgarage eine Überdosis genommen, wahrscheinlich sei sie zwischen dem Müll gestorben, meint Claudia: “Alle sagen, sie haben sie gesehen. Aber keiner hat etwas gemacht. Das geht mir so nahe.” – “Mir nicht”, sagt Rafaela.
Der Barmann stellt Rafaela den nächsten Wodka auf den Tisch. Die Flüssigkeit ist hellbraun. “Ich habe dir doch gesagt, mehr Wodka, weniger von diesem Gummibärchensaft”, ruft ihm Rafaela zu. Pfefferspray oder Waffen, um sich zu verteidigen, hätten sie nicht in ihren Taschen, sagen beide Frauen. “Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich sie auch benutzen”, meint Claudia. Auf ihrem rechten Oberschenkel ist eine lange Narbe. Ich frage, woher sie kommt, Claudia schüttelt nur den Kopf.
2.345 Straftaten hat die Berliner Polizei vergangenes Jahr rund um die Kurfürstenstraße aufgenommen, darunter 50 schwere Körperverletzungen, 273 Ladendiebstähle, 49 Mal Freiheitsberaubung, 50 Mal Raub.
Auch Rafaela hat eine Narbe – über ihrer Augenbraue, von ihrem Zuhälter, mehr als 20 Jahre ist das her. Einer anderen Frau habe er den Kiefer gebrochen, eine an den Füßen aus dem Fenster gehalten und noch einer damit gedroht, ihrer schwangeren Schwester das Baby aus dem Bauch zu treten. Für 50.000 Mark habe sie sich von ihm freikaufen müssen, sagt Rafaela. Und bis sie diese zusammen hatte, sei sie jeden Tag auf die Kurfürstenstraße gekommen.
20.15 Uhr – Horst will sterben
Auch Horst hat Gewalt erfahren – durch eine Prostituierte. Trotzdem beobachtet der 78-Jährige jeden Nachmittag auf einem Klappstuhl auf dem Gehweg für drei, vier Stunden alles, was auf der Kurfürstenstraße vor sich geht. Neben ihm sitzt ein Typ in einem weißen Trainingsanzug, rund 50 Jahre jünger als Horst. Aus einer Box dröhnt elektronische Musik. “Was soll ich denn machen?”, fragt Horst. “Zu Hause den ganzen Tag bloß vor der Röhre sitzen?” Auf einem Betonklotz neben ihm stehen eine Packung Doppelkekse, eine Limo und Plastiktüten voller Kleidung, die Prostituierte dort abgestellt haben. Eine blonde Frau zieht einen neongrünen BH heraus und tauscht ihn mit ihrem weißen. Vielleicht zehn Meter von Horst entfernt laufen fünf Frauen auf und ab, von denen manche nur einen Slip und ein bauchfreies Top tragen.
“Die da”, sagt er und deutet auf eine Rothaarige in einem kurzen grauen Kleid, “wohnt gerade bei mir.” Geld verlange er dafür nicht, aber manchmal Sex. Das mache er häufiger so, doch gut gehe es nicht immer. Vor Kurzem habe ihn eine Frau mit einem Messer verletzt. Dann habe sie seine EC-Karte gestohlen und ihn in seiner Wohnung eingesperrt. “Ich habe sie heute da vorne wieder gesehen”, sagt Horst und klingt nicht einmal, als wäre er ihr böse. Er wisse ja, dass die Sucht, der Zuhälter oder die Armut viele Frauen zur Prostitution zwingen. “Das ist ein ganz mieses Spiel.”
“Warum spielst du mit?”
Horst lacht. “Ja, es stimmt. Ich spiele mit. Aber ich behandle die Frauen anständig.” Horst war 30 Jahre lang Lastwagenfahrer, viermal verheiratet und hat einen Sohn, den er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. “Vielleicht hätte ich mich schon vor ein paar Jahren umbringen sollen, aber jetzt kann ich auch noch warten.” Sein großes Glück sei, dass er als 78-Jähriger noch mit 28-Jährigen schlafen kann – manchmal fünfmal die Woche, behauptet er. Als wir uns verabschieden, flüstert er verschwörerisch: “Pass auf dich auf, das ist kein sicherer Ort. Hier verschwinden Menschen.”
22:30 Uhr – ein Mann und eine Frau haben auf dem Gehweg Sex
Eine Straßenecke weiter um 22:30 Uhr, auf einer Stufe vor einem leerstehenden Laden mit beschmierter Schaufensterscheibe, sitzt eine Frau um die 50 auf dem Schoß eines Typen mit schwarzen, fettigen Haaren. Sie trägt eine Sonnenbrille und ein weißes Kleid, er hat seine Hose heruntergelassen. Sie haben Sex. Neben ihnen auf der Stufe sitzen zwei Typen, trinken Bier und beachten nicht, was dort passiert. Irgendwo in der Ferne grölen Männer: “Und der Mensch heißt Mensch. Weil er vergisst. Weil er verdrängt.” Vielleicht 50 Sexarbeiterinnen laufen die Straße auf und ab oder warten am Gehwegrand, darunter auch Frauen, die so alt sind, dass sie humpeln. Wie viele Prostituierte auf dem Straßenstrich arbeiten, weiß die Stadt nicht. Insgesamt haben sich 2.000 beim Gesundheitsamt angemeldet, hinzu kommen all jene, die illegal arbeiten. Die Beratungsstelle Hydra schätzt, dass es 8.000 Prostituierte in Berlin gibt.
Rafaela kommt mir entgegen. Küsschen links, Küsschen rechts. Sie habe keine Lust auf Arbeit, sagt sie, deswegen habe sie bisher nur einen Freier gehabt. Sie beginnt, über Männer zu schimpfen. Über die mit schwarzen Fingernägeln. Über die, die sie lecken wollen. Und über die mit zu kleinem Penis. “Wenn das Kondom zu groß ist, hängt einem der Zipfel manchmal so in den Rachen.” Rafaela macht ein Geräusch, als würde sie würgen. “Weißt du, die Männer fragen mich immer: Was macht dich so richtig geil? Und dann sage ich: Wenn du dir jetzt einen runterholst.” Sie lacht laut. “Ich versuche immer, so wenig wie möglich zu machen.”
Um 3 Uhr morgens sitzen wir wieder im Café Nil. Sonst ist nur der Barmann da. Rafaela erzählt, dass mit Mitte 30 ihr Ehemann starb, dass sie seit der Schulzeit zusammen waren und dass sie nie am selben Tag mit ihm schlafen konnte, an dem sie mit einem Freier Sex hatte. “Ich habe ihm erst am Grab erzählt, dass ich anschaffen gehe.” Draußen geht die Sonne auf. Im Fernseher schunkelt jetzt Udo Jürgens mit silbernem Jackett und Fliege neben einer Frau mit 80er-Jahre-Föhnfrisur. Sie singen: “Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden. Und dass dir nie die Hoffnung fehlt.”
Rafaela und der Barmann singen laut mit. “Glaubst du, es gibt Liebe ohne Leiden?”, fragt der Barmann.
“Nein”, antwortet Rafaela.
“Doch”, sagt er, “aber immer nur für eine kurze Zeit.”
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