Rückblick 2012. Jonathan Tah ist gerade 16 Jahre alt geworden und wohnt in einem kleinen Zimmer im Jugendinternat des Hamburger SV. Das Fernsehen ist da. “Hier sind vier Jungs. Sie sind die Besten ihres Jahrgangs” – mit diesen Worten begann die 6-teilige Sky-Doku “Projekt Profi” über Tah und drei andere deutsche Jugendnationalspieler. Fünf Jahre später hat er 64 Bundesligapartien, 11 Champions-League-Begegnungen und drei A-Länderspiele in seiner Vita stehen. Tendenz steigend.
“Klar, ich habe von Anfang an ein gewisses Leben aufgegeben”, erklärt der heute 21-Jährige, der zwischen Interviews, Autogrammstunden und TV-Dokus erwachsen werden musste. Aber ist das als junger Mensch so einfach? Im Interview mit VICE Sports erzählt Jonathan Tah, warum er sich selbst verbietet feiern zu gehen, wie eine Grätsche für den HSV der ausschlaggebende Moment seiner Karriere gewesen sein könnte und warum die Fans endlich verstehen sollten, dass Profis auch “Gefühle haben”.
VICE Sports: Du hast mit 17 einen Profivertrag unterschrieben und musstest dich schon früh Woche für Woche vor einem Millionenpublikum beweisen. Ist es schwer, als Fußballprofi erwachsen zu werden?
Jonathan Tah: Ich habe sehr früh alleine gewohnt und war früh auf mich selbst gestellt. Vielleicht lernt man dadurch viele Dinge sogar ein bisschen schneller als andere Menschen. So schwer ist es eigentlich gar nicht, als Profi erwachsen zu werden.
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Ich hab mir damals immer Ärger eingehandelt, weil ich am Tag vor unserem Spiel feiern gegangen bin. Hat dich das nie gereizt?
Ich hatte immer mein Ziel vor Augen: Ich wollte mit aller Macht Fußballprofi werden. Das hält dich dann auch davon ab, feiern zu gehen, wenn es nicht passt. Ich sehe das aber auch nicht als Verlust an. Ich hatte natürlich ab und zu Mitspieler, die gerne mal durch die Clubs ziehen wollten. Ich habe mich da stets zurückgehalten. Aber es ist ja auch nicht so, dass man niemals feiern gehen kann. Der Moment muss halt passen. Letztlich muss man auch tagtäglich fokussiert bleiben. Und in manchen Situationen ist man als Profifußballer dann eben auch eingeschränkt.
Musst du dir manche Dinge selbst verbieten?
Wenn wir ein Spiel verloren haben und ich Bock habe, auszugehen und andere Leute zu sehen, muss ich meinen Freunden und mir selbst leider sagen: Ich kann leider jetzt nicht rausgehen und mir so den Kopf frei machen. Sonst kommt das eben in die Presse oder ich werde von Fans gesehen, die das nicht verstehen würden.
Auch wenn ihr Millionen verdient, stellst du dir manchmal die Frage, ob dir ein solches Leben wert ist?
Klar, ich habe ja von Anfang an ein gewisses Leben aufgegeben. Aber der Preis ist nicht so hoch: Ich weiß ja trotzdem, wie es ist, wenn man mal feiern geht, und ich weiß, wie es ist, wenn man im Stadion steht und die Fans dir zujubeln. Das kann man nicht miteinander vergleichen. Da ist es gar keine Frage, was ich vorziehe.
Die Fans jubeln aber nicht immer, sondern pfeifen dich auch mal aus oder beleidigen dich. Wie gehst du damit um?
Das ist manchmal hart und nimmt einen im ersten Moment mit – vor allem, wenn man noch jung ist. Aber als Profi habe ich schnell gelernt, wie ich damit umgehen muss: Ich versuche mich von außen nicht so beeindrucken zu lassen – positiv wie auch negativ. Ich lasse mich weder hochloben und bilde mir was drauf ein, noch lasse ich mich unterkriegen und denke, ich wäre schlecht. Ich habe so einen guten Weg für mich gefunden – ich versuche straight zu bleiben und mein eigenes Ding zu machen.
Für Timo Werner wurden T-Shirts mit Beleidigungen gedruckt und in der Relegation schrie ein ganzes Stadion, dass Mario Gomez ein Hurensohn ist. Müssen die Fans sensibilisiert werden?
So etwas ist echt grenzwertig. Ich kann die Aufregung der Fans schon manchmal verstehen. Sie stehen voll hinter ihrem Verein und hassen vielleicht auch andere Vereine. Aber ich finde, sie könnten manchmal ein bisschen sensibler sein. Ich möchte nicht alle in einen Topf werfen, doch manche Fans denken nicht darüber nach, dass wir Menschen sind, die auch Fehler machen und Gefühle haben. Es gehört aber wohl zum Job, damit umzugehen.
Fußballprofis gelten in der Öffentlichkeit meist als nicht so helle Draufgänger, die nur Fifa zocken und ihr Geld für Autos verprassen. Wie findest du es als Fußballer, dass dieses Klischee vorherrscht?
Natürlich kenne ich das Klischee, aber das ist völliger Quatsch. Das ist so, wie wenn du sagst: Models können nur gut aussehen. Nee, können sie nicht. Was sich zum Beispiel Heidi Klum mit ihrer TV-Show aufgebaut hat, verdient großen Respekt. Klar, manche Fußballer sind vielleicht einfach gestrickt, aber das gibt es in jedem Beruf.
Hast du das Gefühl, dass du der Welt zeigen musst, dass du mehr als nur der Fußballer bist?
Nicht der Welt! Ich will höchstens selber beweisen, dass ich auch etwas anderes kann als Fußballspielen. Ich war in der Schule nicht besonders gut – was auch damit zusammenhing, dass ich nur Fußball im Kopf hatte und unkonzentriert war. Aber ich wusste immer, dass ich nicht dumm bin und auch etwas anderes hätte erreichen können mit meinem Fachabitur.
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Als Profifußballer wird jeder Satz von Medien und Fans sofort seziert. Hast du manchmal Angst, Dinge in der Öffentlichkeit anzusprechen?
Natürlich muss ich manchmal aufpassen, was ich sage. Besonders wenn ich voller Emotionen bin. Einmal habe ich nach einem Spiel gesagt: “Wir müssen Eier zeigen.” Danach hat man mir diese Aussage teilweise vorgehalten. Aber so etwas sagt man, wenn man die Leistung nicht auf dem Platz gebracht hat.
Hattest du nie einen Plan B?
Mein Plan B war, Plan A umzusetzen. Plan C muss man natürlich auch haben, wenn man sich zum Beispiel verletzt. Aber ich habe gesagt, dass ich daran erstmal nicht denke, solange ich gesund bleibe. Das bin ich Gott sei Dank geblieben.
Viele Jugendspieler schaffen den Sprung zu den Profis nicht. Gab es da etwas Ausschlaggebendes, was dich zum Profi gemacht hat?
Ich glaube daran, dass nichts zufällig passiert. Neben dem Talent gehört auch Glück in einer gewissen Weise dazu. Dass in einem Spiel gerade die richtige Person zuschaut und man dort einen Eindruck hinterlassen konnte. Hättest du in dem Spiel nicht so gut gespielt, hätte er vielleicht nicht so von dir gedacht. Ich habe meine Chancen eigentlich immer nutzen können, wenn es darauf ankam.
Gibt es einen Moment, den du im Kopf hast, wo du sagst, dass dieser mitausschlaggebend gewesen sein kann?
Mein zweites Profispiel war in der zweiten Runde des DFB-Pokals zu Hause mit dem HSV gegen Greuther Fürth. Ich war extrem nervös. Ich erinnere mich an eine Szene, in der wir fast das 1:1 bekommen hätten, dann wäre es wohl eng geworden für uns. Niclas Füllkrug schoss da aufs Tor, René Adler war nicht mehr im Kasten und ich habe mit einer Grätsche auf der Linie den Ball aufgehalten und ein Tor verhindert. Als ich da wieder aufgestanden bin, rasteten alle Fans komplett aus. Wir haben das Spiel 1:0 gewonnen und ich werde diesen Moment niemals vergessen.
Sind das die Situationen, in denen ihr Spieler merkt, wie wichtig die Fans sind?
Auf jeden Fall. Die Fans im Stadion spielen eine große Rolle für uns Profis. Das Gefühl ist unbeschreiblich. Wenn ich in einer Situation rette oder eine gute Aktion habe, dann ist diese Reaktion der Fans für mich unglaublich. So geht es einem übrigens auch, wenn man ein Tor macht. Das durfte ich ja erst in der Rückrunde der vergangenen Saison das erste Mal erfahren.
HSV gegen Bremen, Leverkusen gegen Köln. Könnt ihr Profis überhaupt diese Rivalitäten nachvollziehen, die die Fans leben?
Wir hängen da schon drin. Gegen Köln war das ein besonderes Spiel für mich, auch wenn ich nicht aus Leverkusen komme. Wir kriegen ja diese besondere Atmosphäre im Stadion mit. Und auch der Besuch der Fans beim letzten Training hat uns gepusht und machte uns klar, wie wichtig dieses Spiel ist. Das hat dann schon eine besondere Bedeutung. In Hamburg war das etwas anderes, da habe ich schon in der Jugend gegen Bremen und St. Pauli gespielt. Das war immer schon ein Derby für mich, seitdem ich klein war. Gerade in Derbys wird mir bewusst, wie wichtig die Fans sind und wie sehr wir Spieler sie auch brauchen.
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Das Interview führte Benedikt Niessen, folgt ihm bei Twitter: @BeneNie–