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Amoklauf

Dieser Mann erzählt, warum er fast einen Amoklauf verübt hätte

"Ich hatte nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte. Wenn es soweit ist, machst du alles." – Aaron Stark hätte 1996 fast zur Waffe gegriffen, heute will er Vorbild sein.

Aaron Stark ist ein großer, schwerer Mann, doch auf der Bühne der TEDx-Konferenz in Colorado wirkt der 39-Jährige wie ein Schuljunge. Er hat all seinen Mut zusammengenommen, schließt die Augen und beginnt mit zitternder Stimme, aus dem dunkelsten Kapitel seines Lebens zu erzählen:

"I was almost a school shooter" – ich war fast ein Amokläufer – beginnt die Geschichte von Aaron Stark. Er steht da, die Arme hängen schlaff neben seinem Körper, die Füße hat er schulterbreit aufgestellt, als versuche er, trotz geschlossener Augen nicht ins Wanken zu geraten. Stark trägt ein hellblaues Hemd in Übergröße, darunter eine oft getragene Jeans, Sneaker, Brille, Glatze, Dreitagebart. Er steht da, ganz allein und packt aus.

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"Ich war immer das neue Kind. Meine Eltern waren sehr aggressiv, drogenabhängig, wir zogen ständig um. Ich war an 30 oder 40 verschiedenen Schulen", beginnt Stark, spricht in einfachen Hauptsätzen, als hake er im Kopf die Komponenten einer Rechnung ab, die nur zu einem Ergebnis führen können.

Aaron Stark, 39, in Colorado: "I was almost a school shooter"

Stark gehörte als Junge zu den Abgehängten, Einsamen, sozial Benachteiligten, die zu Hause nur wenig Liebe und Beachtung erfuhren. Und wurde deswegen fast zum Amokläufer.

2018 starben bisher mehr Kinder und Jugendliche an US-Schulen als Soldaten und Soldatinnen im Einsatz des US-Militärs. Spätestens nachdem Präsident Donald Trump auch Schulkräfte ausstatten wollte, gehört Waffengewalt zum Schulalltag, die Waffenlobby versucht währenddessen, schärfere Gesetze zu verhindern. Als das Jahr 2018 gerade einmal 45 Tage alt ist, passiert die 17. Schießerei, ermittelte die NGO "Everytown". Im Mai 2018 erschoss ein 17-Jähriger zehn Menschen in Santa Fe, Texas. Zehn weitere verletzten sich. Es war der dritte Amoklauf in sieben Tagen.

Amokläufe passieren nicht spontan. Es gibt Anzeichen dafür, warum Menschen zum Gewehr greifen, Aaron Stark zählt in seiner emotionalen Rede einige davon auf:

"Wenn dir immer wieder erzählt wird, du bist wertlos, dann glaubst du es irgendwann. Und du wirst alles dafür tun, dass alle das denken." Stark erzählt, wie er jeden Morgen um 4 Uhr von Cops geweckt wurde, weil seine Eltern kriminell waren, wie er zu einer Schule ging, an der er ohnehin nie länger als vier Wochen bleiben würde. Er habe gestunken, weil sie zu Hause kein fließend Wasser hatten, weil er nie saubere Klamotten trug. "Ich hatte Gewichtsprobleme, mochte Comic-Bücher, während es einfach uncool war, Comic-Bücher zu mögen." Stark bewegt seine Hand wie ein Rapper zum Takt, ringt um Wörter, wenn er etwas besonders Verletzendes ausspricht. Er formt die Hände über dem Kopf zu einer Harpune, "die Kinder haben mich damit abgeschossen, wie einen Wal".

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"Ich dachte immer, es gibt gute und schlechte Menschen auf der Welt. Ich müsse wohl einer der schlechten sein." Mit 12, 13 Jahren war er sehr aggressiv. Mit 14, 15 begann er, sich zu ritzen, um das Gefühl zu haben, die Kontrolle über sein Leben zurückzuerlangen. "Ich habe die Narben noch immer", sagt er und streckt dem Publikum seinen Arm hin. Mit 16 war Stark obdachlos, die Eltern hatten ihn rausgeschmissen, waren ohnehin ständig betrunken, stritten sich. Er lebte auf der Straße. Er behandelte seine Freunde wie Dreck, einer nach dem anderen ließ ihn fallen. Als er mit 16 versuchte, Suizid zu begehen, kam ihm ein Freund zur Hilfe. Das Sozialamt nahm ihn und seine Mutter mit. Als sie heimgeschickt wurden, habe seine Mutter nur gesagt: Das nächstes Mal machst du’s besser, ich kaufe dir die Rasierklingen.

"Mein Herz wurde rausgerissen. Ich hatte nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte, nichts zu verlieren. Wenn es soweit ist, machst du alles." Also besorgte er sich eine Waffe. "Ich wollte Menschen erschießen, in einer Schule, einer Kantine. Egal. Es ging nur darum, so viele Menschen in kürzester Zeit zu erwischen wie möglich."


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Die Waffe besorgte ihm eine Gang innerhalb von drei Tagen. Alles wäre so einfach gewesen. Doch in dieser Zeit meldet sich auch immer wieder ein Freund bei Stark. Sein letzter. Fragte, ob er etwas für ihn tun könne, ob sie zusammen essen wollten, einen Film schauen. "Er hat mich behandelt, als sei ich eine Person, als ich bereits glaubte, kein Mensch mehr zu sein."

Aaron Starks Stimme überschlägt sich, er muss immer wieder schlucken. Sieben Minuten und 28 Sekunden lang hängt ein voller Saal an seinen Lippen. Am Ende bekommt er stehenden Applaus. Fast zwei Millionen Menschen haben das Video auf YouTube gesehen, in der Kommentarspalte bedanken sich Menschen für Starks Mut.

Heute ist Stark 39, hat vier Kinder, zwei Katzen, einen Hund und ist glücklich verheiratet – seine Familie sitzt im Publikum. Auch der Freund, der sich damals um ihn kümmerte, ist dort. "Zeigt denen Liebe, von denen ihr denkt, sie verdienen es am wenigsten." Stark steht da, ein ganz normaler Mann mit einer traurigen Vergangenheit. Der Dinge erlebt hat, die viele Kids in den USA und auf der ganzen Welt bereits erlebt haben. Stark wendet sich an genau die: "Meine Mission ist es, die Menschen wissen zu lassen, dass, egal wie dunkel es scheint, Licht kommt. Wir sind wirklich nicht alleine."

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