Neue Liebe

Dieser Text erschien zuerst in der ‘The Hello Switzerland Issue’ – dem ersten VICE-Magazin, das vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Schweizer Redaktion entstanden ist.

Einmal laut ausgesprochen und schon schmunzelt das Gegenüber, das Kopfkino läuft, der Film ist kaum jugendfrei. Beim Begriff Polyamorie schiessen vielen schnell wilde Bilder von heissen Orgien ins Gehirn.

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Für Leute, die in polyamoren Beziehungen leben, ist diese Verknüpfung eher ein Affront als Realität. Gruppensex kann vorkommen – so poly (griechische Vorsilbe für “viele”) sich diese Beziehungsform anhört, so viele verschiedene Möglichkeiten gibt es, sie auszuleben. Aber im Wort Polyamorie steckt mehr als nur Sex: Es kommt aus dem griechisch-lateinischen und bedeutet “viele Liebende.” Polyamoristen empfinden Liebe für mehr als nur eine Person. Ihre polyamoren Beziehungen leben sie mit den verschiedenen Partnern meist parallel nebeneinander aus. Alle Personen sind romantisch und emotional involviert. Der Sex beschränkt sich mehrheitlich auf die Zweierbegegnung.

Michaela, 37, aus Zürich hat drei Freunde: Paul, Simon und Raffi. Bei diesem Beziehungskonstrukt gehe es ihr nicht hauptsächlich um Sex, sondern um möglichst viel Liebe. “Sonst könnte ich auch eine offene Beziehung führen. Dabei müsste ich die Emotionen aber aussperren. Doch ich will mich in andere Menschen verlieben dürfen”, erklärt Michaela, die seit zehn Jahren so lebt. Mit Paul, der sie in diese Welt eingeführt hat, ist sie seither zusammen, Simon und Raffi kamen später dazu.

Polyamoristen pflegen einen Ehrenkodex: Alle Involvierten wissen Bescheid und müssen mit weiteren Beziehungen des anderen einverstanden sein. Im Stillen fremdzugehen ist tabu. Sie grenzen sich ab von der “Freien Liebe”, ebenso von Swingern, die auf unbeschwerten Sex ausgerichtet sind. Bei der Polyamorie liegt der Schwerpunkt auf engen, dauerhaften Beziehungen – und auf Ehrlichkeit.

Erst seit wenigen Jahren wird diese Beziehungsform in einer breiteren Bevölkerungsgruppe wahrgenommen, dank Leuten wie Michaela, die sich offen zu diesem in vielen Augen verpönten Liebeskonstrukt bekennen. Und auch sie hat erst als 26-Jährige verstanden, dass es das gibt. “Ich hatte meine früheren monogamen Beziehungen meist schnell beendet, weil ich Lust auf andere Begegnungen hatte. Ich dachte immer, ich liebe die Person nicht genug”, erklärt sie. Erst Paul habe ihr ein anderes Beziehungskonzept gezeigt und so lernte sie mehr polyamore Leute kennen. “Unter ihnen lebten viele schon eh und je so, auch in grösseren Familienstrukturen und mit Kindern.”

Wie bei vielen neuen gesellschaftlichen Entwicklungen waren die Amerikaner den Europäern ein paar Jahre voraus. Der US-Buchautor Franklin Veaux gilt als Koryphäe der Polyamorie. Er war nie monogam, verlor seine Jungfräulichkeit bei einem Dreier und stand wie Michaela etwas verloren da mit seinen Gefühlen, als um ihn herum monogame Paare in Einfamilienhäuschen zogen und Kinder auf die Welt brachten. Dann seine Erlösung: 1992 hörte Veaux erstmals den Begriff Polyamorie. Gleichgesinnte fanden zusammen, um die Idee von gleichzeitigen romantischen Beziehungen zu leben und weiterzuentwickeln. Es entstand eine Subkultur und mit ihr ein neues Vokabular.

Veaux spricht von “Compersion”: Das Wort drückt die Freude über eine neue, parallele Beziehung des eigenen Partners aus. Oder von “Polyfidelity”: Eine Mehrfachbeziehung, die nicht offen ist für neue Partner. Sie unterscheidet sich von Beziehungen, die unter Absprache neue Partner hinzufügen können. Und: Polyamoristen nennen sich “Polys”.

Das alles entsteht während einer Zeit, in der Monogamie und Heirat die Norm sind. Zumindest in unseren Breitengraden. Weltweit ist Polygamie weiter verbreitet als man denkt, etwa in vielen muslimischen Ländern. Bei dieser Form ist es meist Männern erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten. Das war bis vor einer verhältnismässig kurzen Zeit auch bei uns so. Monogamie kam erst in Mode, als unsere Vorfahren sesshaft wurden und die Landwirtschaft aufkam. Zuerst aus praktischen Gründen, unter anderem weil die Aufteilung von Farmland unter den Nachkommen so einfacher war – auch die Verbreitung von Syphilis und Tripper trieben unsere Vorfahren zwangshalber in die Monogamie, denn Unfruchtbarkeit hätte die Population geschwächt. Erst im 19. Jahrhundert wurde diese Lebensform zum romantischen Ideal.

Heute sind rund drei Viertel der Schweizer Bevölkerung in einer monogamen Partnerschaft. Sind sie sexuell und emotional befriedigt? Mitnichten. In Umfragen klagen über 70 Prozent von ihrem unerfüllten Liebesleben. Auch der Anteil der Fremdgeher ist entsprechend hoch, bei Männern und Frauen. Untreue ist einer der Hauptgründe, warum Ehen in den westlichen Industrienationen reihenweise in die Brüche gehen. In der Schweiz liegt die Scheidungsrate bei 50 Prozent – und es werden immer weniger Ehen geschlossen.
Gerade Frauen geben bei Befragungen regelmässig an, Treue in einer Partnerschaft sei ihnen wichtig. Ein frommer Wunsch: Frauen sind in einer Partnerschaft schneller sexuell angeödet als Männer. So beschreibt es jedenfalls der Autor Daniel Bergner in “Die versteckte Lust der Frauen”. In Wirklichkeit seien sie das promiskere Geschlecht. Doch Erziehung und kulturelle Prägung stünden ihrem Wunsch nach wechselnden Partnern im Weg.

Langsam scheint ein neuer Zeitgeist die Annäherung an andere Liebesformen zuzulassen, dank der gestiegenen sexuellen Offenheit sowie der gestiegenen Unabhängigkeit von Frauen. Einige Frauen wie Michaela lösen sich aus dem gesellschaftlichen Korsett, hören auf ihre eigenen Bedürfnisse und pfeifen auf Moralvorstellungen. Die 37-Jährige gondelt elegant zwischen ihren drei Partnern hin und her. Schläft einmal bei Paul, der im selben Haus auf dem gleichen Stock mit seiner anderen Freundin wohnt, dann wieder bei Raffi. Er wohnt mit seiner Freundin auf der anderen Stadtseite. Aber am meisten übernachtet Simon bei Michaela, sie kennen sich erst seit eineinhalb Jahren. Von allen Männern sei sie in ihn derzeit am stärksten verliebt, sagt sie. Aber jede der Partnerschaften habe ihre eigene Qualität.

Ich frage mich, was mit den Freundinnen ihrer drei Freunde ist. “Alle wissen alles voneinander. Wir verstehen uns super. Auch sie haben noch andere Partner. Würden wir ein Organigramm malen, es wäre riesig”, sagt sie lachend und fügt an, dass ihre Beziehung zu den Freundinnen platonisch sei. Die Fantasien vom Gruppensex können wieder zur Seite geschoben werden.

Ein solches Lebenskonzept hört sich trotz sexuell aufgeschlosseneren Zeiten auch im Jahr 2017 für viele Ohren verwegen an. Oft wird die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten befürchtet, doch: Fehlalarm. Michaela und ihre Partner schützten sich mit Kondomen, sollte eines platzen, würden alle informiert werden, sagt sie. Auch eine anonyme Online-Umfrage aus den USA zeigt, dass trotz wechselnder Partner Übertragungen von Geschlechtskrankheiten weniger wahrscheinlich seien, als bei Fremdgehern. Diese riskieren beim Sex ausser Haus offenbar einiges mehr.

Polyamore Beziehungen haben laut Studien noch weitere positive Nebeneffekte: ein grösseres soziales Netzwerk als monogame Paare, und die Kontakte halten viel häufiger auch nach einer Trennung. Ausserdem wird die Befürchtung widerlegt, wonach Kinder unter polyamoren Eltern leiden würden. Laut Studien sind sie mindestens so glücklich wie Kinder aus traditionellen Familien – sie schätzen das Netzwerk von Erwachsenen. Schwierig sei allerdings die Stigmatisierung, besonders weil die Partnerform ihrer Eltern nicht rechtlich anerkannt sei.

Offen zu zeigen, dass man poly ist, braucht auch heute noch Mut. Michaela vergleicht es mit einem “Coming out”. Es ist deshalb nicht bekannt, wie viele Leute in der Schweiz polyamor leben. Reine Ausnahme scheint es aber nicht zu sein: Fragt man im Freundeskreis nach, wissen immer mehr von entfernteren Bekannten, die ein solches Leben führen. Falls man merkt, dass Polygamie für einen die neue Beziehungsform werden könnte, noch ein praktischer Tipp von Michaela: “Es hilft, wenn man für den jeweiligen Partner eigene Bettdecke und Kopfkissen hat. Dann muss man nicht die ganze Zeit die Bettwäsche waschen.”

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