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THE CROWN AND SCEPTER ISSUE

Wie lassen sich atomare Geheimnisse für immer begraben?

Jahrzehnte nach dem Fall der Sowjetunion erforschen Wissenschaftler die Folgen der Atomtests in Kasachstan.

Juri Striltschuk, rechts, Leiter der Ausbildungs- und Informations­abteilung des National Nuclear Center in Kurtschatow, geht an Atomtest-Beobachtungs­türmen auf einem Testgelände vorbei. Viele dieser Gebäude sind geplündert worden. Foto vom Autor

Aus der Crown and Scepter Issue

Bei unserer Fahrt über die schöne Steppe von Semipalatinsk, ein Gebiet so groß wie Kuwait, deutete nichts auf Geheimhaltung oder die schrecklichen Extreme des menschlichen Erfindungsgeists hin. Wir parkten, stiegen aus und Juri Striltschuks Dosimeter, das die Strahlung maß, piepste schneller.

Mit seiner Sonnenbrille, dem langem Haar und dem Ziegenbart sah Striltschuk aus, als hätte er Soldaten in eine postapo­kalyptische Schlacht führen können. Stattdessen führte er eine Gruppe US-Journalisten, die Duschhauben auf den Köpfen und um die Schuhe trugen, durch einen verlassenen Landstrich im Nordosten Kasachstans. Wir befolgten seine Anweisung, nicht ohne Gesichtsmaske durch den Mund zu atmen und die obsidianartigen Steine nicht anzufassen. Er hob selbst mit der nackten Hand einen auf. „Geschmolzene Erde", sagte er.

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Angefangen im August 1949 erhitzten sowjetische Wissenschaftler dieses Stück Steppe wiederholt auf die Temperatur der Sonne. Vier Jahre später detonierte unweit von hier die erste sowjetische Wasserstoffbombe—der endgültige Beweis für den Anbruch des Atomzeitalters. Die Explosion war 26-mal größer als die der Bombe von Hiroshima. Dieser öde Ort mit dem Spitznamen Polygon (russisch für „Schießplatz") sollte nach dem US-Testgelände in Nevada zum weltgrößten Kernwaffentestgelände werden. Insgesamt wurden hier 456 Explosionen ausgelöst, 340 davon infolge eines Verbots von Oberflächentests von 1963 unterirdisch.

Striltschuk begann seine Arbeit im Polygon 1990, als das 18.000 Quadrat­kilometer große Gelände noch am Rand der Sowjetunion lag. In jenem Jahr gab es nur noch wenige Tests: Die UdSSR, die USA, Großbritannien, Frankreich und China führten insgesamt 18 durch, während es auf der Höhe des Kalten Kriegs 1962 ganze 178 gewesen waren.

Die Auswirkungen früherer Explosionen erwiesen sich als weitreichender, als die Militärforscher geschätzt hatten: Bis heute kämpfen viele Einwohner der nahegelegenen Stadt Semei mit hohen Sterblichkeits-, Krebs- und Selbstmordraten.

Der Test, auf den sich Striltschuk vorbereitete, kam nie. Die Sowjetunion löste sich auf und am 29. August 1991 schloss der neue Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, das Polygon. Fast über Nacht wurde Semipalatinsk zum weltweiten Symbol der atomaren Abrüstung.

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Striltschuk, Mitte, steht in der Nähe eines Einschlagkraters, der von einer Reihe atomarer und thermonuklearer Explosionen verursacht wurde. Foto vom Autor

Doch als Striltschuk und Tausende Mitglieder des Militärs das Polygon verließen, wurde es zum Niemandsland. Bald darauf tauchten Plünderer auf. Sie rissen Metall und andere Materialien aus der alten, zum Großteil versteckten Infrastruktur, wobei sie sich (bewusst oder unbewusst) hohen Strahlungskonzentrationen aussetzten. Lokalbehörden gaben eingeschränkte Bergbaugenehmigungen heraus, um wirtschaftliches Wachstum anzuregen. (Seit Sowjetzeiten ist der Bergbau ein Grundpfeiler der kasachischen Wirtschaft. Heute ist das Land der weltgrößte Uranlieferant.)

Plutonium, der aus Uran hergestellte Bombenbestandteil, hat eine Halbwertszeit von mehr als 24.000 Jahren. Aus Angst, dass Teile der verstreuten sowjetischen Atomtestgebiete in die falschen Hände fallen könnten, wurde Washington Anfang der 1990er aktiv. 1994 wurde heimlich mehr als eine halbe Tonne angereichertes Uran aus einem kasachischen Hüttenwerk drei Stunden östlich des Polygons weggeschafft. (Vor Kurzem wurde dieselbe Fabrik als internationale atomare Brennstoffbank für den Iran vorgeschlagen.)

Auf dem Testgelände bereitete vor allem der Berg Degelen den Analysten des US-Verteidigungsministeriums Sorgen, denn dort befand sich der unterirdische Komplex, in dem die Sowjets die meisten ihrer Atomtests durchgeführt hatten. Später wurden offizielle Schätzungen öffentlich, laut denen der Degelen in Metall und in Tunneln genug radioaktives Material enthielt, um einer aufstrebenden Atommacht oder einer Terrorgruppe die Herstellung Dutzender nuklearer oder radiologischer Waffen zu ermöglichen. Das US-Verteidigungsministerium begann 1996 ein dreijähriges Projekt, um das Risiko des Bergs zu „eliminieren", das insgesamt 6 Millionen Dollar kostete. In jenem Jahr feierten die USA und Kasachstan gemeinsam die ersten Tunnelversiegelungen. Der Rest-inhalt wurde nicht endgültig dokumentiert.

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Striltschuk ist heute Leiter der Ausbildungs- und Informationsabteilung des National Nuclear Center in Kurtschatow, der staatlichen Einrichtung, die das Gelände überwacht. Ich fragte ihn, ob er sich 1991 vorgestellt hätte, dass ein Verlassen des Polygons letztendlich Terrorängste schüren würde. „Die Entscheidung wurde vom Präsidenten getroffen", sagte er. „Welche Wahl blieb uns schon, außer zu gehen?"

Ein Strahlungsmesswagen des kasachischen National Nuclear Center steht in der Nähe des Ground Zero des Polygons, wo die erste sowjetische thermonukleare Bombe gezündet wurde. Foto von Carl Robichaud

Siegfried S. Hecker hatte 1998 gerade seine Position als Direktor des Los Alamos National Laboratory, dem Geburtsort der Atombombe, für den Ruhestand verlassen, als er einen besorgniserregenden Hinweis von einem kasachischen Atomforscherkollegen erhielt. Hecker war gegen Ende des Kalten Kriegs im Dienst gewesen und kannte sich mit den Nachwirkungen von Atomtests gut aus. Er reiste zum Polygon und war schockiert, wie schlimm die Plünderei in und um den Degelen war: Schweres Gerät und aufgerissene Erde bezeugten, dass sie inzwischen industriell betrieben wurde.

Eine Atombombe braucht 17 Pfund Plutonium, vielleicht auch weniger. Heckers Schätzung zufolge könnten sich in dem Gebiet bis zu 440 Pfund befinden. In einem Bericht schrieb er, das Material sei „in relativ konzentrierter Form, leicht aufzuheben und für jeden zugänglich." Und es war schwer zu beurteilen, wie viel davon fehlte.

Um die zweifelnden russischen Funk­tionäre vom Ernst der Lage zu überzeugen, zeigte Hecker dem Direktor des russischen Pendants zu Los Alamos Fotos von den geplünderten Stellen. Am folgenden Morgen taten sich Physiker, die Veteranen des Polygons waren, mit Hecker und einer Gruppe kasachischer Forscher zusammen, um eine Kooperative zur Gefahrenminderung zu planen.

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Man war sich einig zu schweigen. Während der Verhandlungen gaben die Russen zu, es gäbe in der Nähe des Degelen noch mehr oberflächennahe Tunnel voller Plutonium. In manchen Fällen seien die Bomben nicht vollständig detoniert, sodass reines Plutonium und hochangereichertes Uran zurückgeblieben seien.

Im Jahr 2000 bezahlten die USA Kasachstan, um mit der Versiegelung dieser Stellen zu beginnen. Hierbei wurde das Plutonium unter einer Mischung aus Stahl und Beton begraben—eine Technik, die sowjetische Forscher 1986 bei dem Versuch entwickelt hatten, die Atomkatastrophe in Tschernobyl einzudämmen. Die Versiegelung sollte die Kosten für die Extraktion des Plutoniums so hoch treiben, dass die Herstellung neuen Plutoniums günstiger wäre.

Doch gesetzliche Hindernisse und Verzögerungen in der Bereitstellung der Gelder aus den USA erschwerten die Arbeit. Bald öffneten Eindringlinge einige Tunnel, um an Metallschrott zu gelangen, wobei sie in manchen Fällen dreist Bulldozer, Sprengstoff und andere Ausrüstung der Bergbaufirma verwendeten, die sie überhaupt erst versiegelt hatte.

Ein Modell des Ground Zero in einem Museum in der ehemals geheimen Stadt Kurtschatow. Foto von Carl Robichaud

Die Anschläge des 11. September und Beweise dafür, dass al-Qaida nach Atommaterial suchte, versetzten die US-Behörden in Alarmbereitschaft.

Doch die Versiegelungsarbeiten in Semipalatinsk waren zum Erliegen gekommen, und als sie 2004 wieder begannen, stellten Ingenieure fest, dass 110 der 181 versiegelten Tunnel im Degelen-Gebiet geöffnet worden waren. Die Russen machten noch ein schockierendes Geständnis: Im Degelen lagen weitere 220 Pfund abbaubares Plutonium, zusammen mit hochsensiblem Material, das zum Bau von Atomwaffen eingesetzt werde.

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Die Budgetanfragen beim US-Vertei­digungsministerium schossen von etwa 5 Millionen Dollar jährlich auf Dutzende Millionen hoch. 2009 besuchte laut einer geheimen Depesche der US-Botschaft ein hoher US-Funktionär die kasachische Hauptstadt Astana, um persönlich mitzuteilen, wie dringend Washington verhindern wolle, „dass atomare Rückstände in die Hände von Terroristen fallen". In der Depesche hieß es auch: „Das Risiko einer Weitergabe ist hoch", und das Versiegeln des restlichen Bergs werde „ein Kampf" sein.

Ein paar Wochen darauf rief der US-Vizepräsident Joe Biden bei einem hohen kasachischen Regierungsbeamten an und bat ihn inständig, der Plünderei ein Ende zu setzen. Endlich wurde ein Gebiet von 60 Kilometern um den Berg herum zur Sperrzone erklärt und mit Überwachungskameras und Bewegungsmeldern ausgestattet. Die USA spendeten mindestens eine kleine Drohne, um dort zu patrouillieren, und gaben geschätzte 100 Millionen Dollar für Sicherheitsmaßnahmen aus.

Beim Atomsicherheitsgipfel 2010 gelobten die Präsidenten Obama und Nasarbajew sowie der russische Präsident Medwedew, die Sicherung des Degelen-Bergs abzuschließen. Im Oktober 2012 feierten Delegationen aus den drei Ländern das Ende der Bemühungen. Nach 16 Jahren und mehr als 150 Millionen Dollar an finanzieller Unterstützung aus den USA wurde ein bescheidenes, dreiseitiges Denkmal in der Nähe des Bergs errichtet. In drei verschiedenen Sprachen stand darauf schlicht: „1996—2012. Die Welt ist sicherer geworden."

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Bei diesem gesamten Prozess fehlte die weltweit wichtigste Organisation für Atomaktivität. Aus Sorge vor einem Durchsickern der Information und bürokratischen Verzögerungen hatte die Koalition entschieden, einen Teil der Plutoniumkontamination vor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) zu verheimlichen. Bei einem Besuch der IAEO 2010 hielten amerikanische Koalitionsvertreter die Inspektoren von den sensiblen Orten fern—und diese wirkten angesichts der Risiken einer Meldung nur zu eifrig mitzuspielen.

„Wir fragten uns, ob es das wirklich wert sei, für dieses Material unsere wenigen Sicherheitsressourcen zu beanspruchen", sagte ein anonymer IAEO-Funktionär den Autoren eines Berichts des Belfer Center der Harvad University von 2013. „Wir beschlossen, eine Inventur sei das Geld nicht wert." Deswegen konnten die internationalen Inspektoren nie feststellen, ob die Versiegelungsmethoden im Polygon den Sicherheitsanforderungen für die langfristige Verwahrung von Atommüll entsprachen. „Für Semipalatinsk ist weitere Unterstützung geplant", sagte mir ein IAEO-Sprecher.

Ein Tunnel beim Berg Degelen. Foto mit freundlicher Genehmigung des Verteidigungsministeriums der USA

Atomgeheimnisse werden nachvollziehbarerweise gehütet. 2011, zum Höhepunkt von WikiLeaks, sorgte sich die damalige Außenministerin Hillary Clinton um ein „Internetzeitalter, in dem gefährliche Informationen mit einem Tastendruck um die Welt gesendet werden können". Sie führte als Paradebeispiel Atomdiebstähle an. „Indem wir die Details geheim halten", sagte sie, „verringern wir die Wahrscheinlichkeit, dass Terroristen oder Verbrecher das Material finden und für ihre eigenen Zwecke stehlen."

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Während Hecker die Vertraulichkeit der Sicherung des Polygons verteidigt, betont er auch den Stellenwert der Transparenz beim Sichern von Atommaterial. „Irgendwann kommt alles raus", sagte er. „In vielen Bereichen wie etwa der Atomsicherheit rächt sich extreme Geheimhaltung, weil sie den Arbeitern und Beamten wichtige Informationen vorenthält."

Das Vermächtnis des Schweigens herrscht noch über das Polygon. Laut den Behörden seien Plünderer zwar bis auf ein paar Meter an unbewachtes Plutonium herangekommen, doch es gäbe keine Indizien dafür, dass sie welches eingesammelt hätten. Sergej Lukaschenko, Direktor des Instituts für Strahlungssicherheit und Ökologie, sagte jedoch, es gäbe Sorgen bezüglich der neu entdeckten „Hotspots" um das Testgelände, die Rückstände von Plutonium und hochangereichertem Uran enthalten.

„Wir wissen nicht, wie viel Material wir haben", sagte er. Es sei „fast unmöglich", doch mit Einfallsreichtum und Mühe könnte jemand heute „prinzipiell" genug Material sammeln, um eine Atomwaffe zu bauen.

Vergangenes Jahr, inmitten der sich zuspitzenden Ukraine-Krise, teilte die russische Regierung mit, sie werde die Partnerschaft zur Eindämmung der atomaren Bedrohung abbrechen. Die USA hatten bereits 100 Millionen Dollar für das folgende Jahr zugeteilt; das Programm sollte bis 2018 laufen.

„Die USA und Kasachstan arbeiten auch weiterhin zusammen", sagte Hecker.

Heute gibt es einige Zäune und Barrieren um das Polygon, und die sensibelsten Orte sind mit Überwachungsgeräten gesichert. Doch es gibt nicht viel, das Hirten davon abhält, ihre Herde im Rest der Landschaft zu weiden. Offiziell genehmigte Bergbauarbeiten werden unweit des Degelen durchgeführt, und das National Nuclear Center bietet Führungen an.

Lukaschenko und seine Forscher wollen außerdem die langfristigen Umweltschäden im Polygon erforschen, indem sie Rüben, Erdbeeren und Hühner züchten und diese auf Strahlung untersuchen. Vermutlich werden solche Untersuchungen immer nötig bleiben.

Dennoch sind laut Lukaschenko manche Teile des Polygons inzwischen relativ sicher für Besucher und sogar für Landwirtschaft. Er hofft, dass irgendwann mehr Touristen kommen werden (so lange sie keine Sou­venirs mitnehmen, versteht sich).

Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem International Reporting Project entstanden. Mehr über Semipalatinsk findest du auf Motherboard.VICE.com.