Es gibt wenige House- und Techno-Produzenten, die so berühmt, schillernd sowie gleichzeitig bodenständig und kredibel sind, wie der Kanadier Tiga Sontag. Seit den Neunzigern ist Tiga in Nachtleben und Musikbetrieb als Clubbetreiber, Radiomoderator, DJ, Produzent und Labelbetreiber umtriebig, gemeinsam mit Matthew Dear arbeitete er zuletzt an seinem kommenden, neuen Album. „Fever”—eine Tiga vs. Audion-Koproduktion und der erste Ausblick auf das noch umbetitelte Album—präsentieren wir euch heute exklusiv und in voller Länge. Grund genug, Tiga zur Entstehung des Tracks und Albums und seiner Philosophie als Turbo-Chef zu befragen.
THUMP: Bei der „Led Zeppelin”-Technik, ein Album zu schreiben, schottet man sich selbst komplett von der Außenwelt ab, bis es fertig ist. Ist dir das gelungen?
Tiga: Nein, das hat nicht so gut geklappt. Okay, vielleicht teilweise. Ich habe viele Tracks zusammen mit Matthew Dear produziert, sein Studio liegt an einem ziemlich abgelegenen Ort im New Yorker Umland. Also haben wir schon einen Teil des Aufnahmeprozesses in der Abgeschiedenheit verbracht. Ich hätte zwar gerne mehr Zeit dort verbracht, aber es war auch so ein sehr guter Arbeitsprozess für mich. Bei mir hapert es aber auch noch daran, dass ich das nicht hundertprozentig durchziehen kann. Ich habe es noch nicht geschafft an den Punkt zu gelangen, an dem du dich komplett der Realität entziehst—aber das ist etwas, auf das ich hin arbeiten möchte.
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Ist das dein Traum? Dich für den kompletten Arbeitsprozess, vom Anfang bis zum Ende, wegzuschließen?
Das Album und der Arbeitsprozess werden zu einer Art Lifestyle, das ist spannend. Für mich ist das Leben ein ewiger Kampf zwischen der Realität und dem Imaginären, und ein Album ist eben eine dieser komischen Scheinwelten. Es ist etwas Träumerisches. Es ist nicht nur dafür da, Singles auszuschütten. Ein Album kann eine sehr funktionale Seite haben, gerade bei Dance-Music. Aber wenn du dich wirklich auf ein Album einlässt, gelangst du in diesen sehr persönlichen Bereich. Sich abzuschotten und komplett von der Realität zu trennen, nur mit Stift und Papier am Tisch zu sitzen und Gedanken sich manifestieren zu lassen, ist für mich eine erstrebenswerte und wichtige Angelegenheit. Das ist eigentlich der Traum eines jeden Künstlers: komplett frei zu sein.
Wie lief die Arbeit mit Matthew Dear im Studio?
„Plush” war das erste Stück, die wir zusammen gemacht haben. Ich nahm das Demo auf und er produzierte den Track. Ich bin aber schon sehr lange ein großer Fan von Matthew. Wir kannten uns schon ein wenig, und dann haute ich ihn irgendwann mal an, ob wir nicht etwas zusammen machen möchten. Ich habe manchmal ein gewisses Bild von Menschen. Also ich bin jetzt kein Stalker oder so, aber ich hatte da einfach ein bestimmtes Gefühl bei ihm. Ich war auch recht nervös, mit ihm zusammen zu arbeiten. Es hat mir sehr viel bedeutet. Und alles, was ich mir dabei erhoffen konnte, wurde Wirklichkeit.
Auf „Let’s Go Dancing” folgten dann „Fever” und „Plush”, die kommen dem Sound des Albums wesentlich näher. Ich kann gar nicht genug Gutes über Matthew Dear sagen. Er ist technisch großartig und ein sehr geduldiger Mensch. Für jemanden, der schon so lange dabei ist, ist er immer noch total enthusiastisch. Er ist das Gegenteil von abgestumpft. Er benimmt sich noch immer so, als ob er gerade erst mit der Musik angefangen hätte, arbeitet jede Nacht durch. Für mich passt das einfach perfekt, weil ich selber liebend gerne rumexperimentiere.
Dein Label Turbo Recordings ist inzwischen 16 Jahre alt. Wie denkst du darüber: die Langlebigkeit, die Konsistenz, die Form, die das Label in den letzten Jahren angenommen hat?
Das ist schon komisch. Das hat was von diesem Punkt in einer Beziehung oder einem Job, an dem du erkennst: „Krass, das ist eine verdammt lange Zeit!” Das macht schon was aus. In all diesen Jahren gab es so viele Stunden, Tage, Wiederholungen, Projekte, Freunde … dass du dich an einem gewissen Punkt einfach fragst „Was kommt als nächstes?” Vielleicht läuft bei mir auch etwas falsch? Also auf eine gute Art. Ich bin ein erwachsener Mann, der sich noch immer total für Techno begeistern kann. Bin ich vielleicht etwas einfach gestrickt? Oder bin ich eigentlich nicht weniger vielschichtig als der Typ von nebenan, und habe einfach nur sehr früh in meinem Leben genau das gefunden, was ich wirklich liebe, und das weiterverfolgt?
Ich würde sagen: definitiv Letzteres!
Es ist, wie sich zu verlieben und wieder zu endlieben. Das ist das schöne an Musik. Wenn du deine Ohren offen hältst, stumpfst du nicht ab. Es kann passieren, dass du beschissene Wochen und Monate hast, in denen du absolut nichts Gutes hörst—aber dann, wie aus heiterem Himmel, packt dich etwas und du bist wieder über beide Ohren verknallt.
Dieser Enthusiasmus ist garantiert auch das, was das Interesse an Turbo so lange aufrecht erhalten hat.
Ich denke, das ist der Hauptgrund für die Langlebigkeit des Labels und die Dauer meiner Karriere. Meine Freunde und ich machen uns viel darüber lustig. Wir leben eigentlich noch immer das Leben von Teenagern. Dieser Lifestyle ist ein Luxus und ich habe mir in letzter Zeit viele Gedanken darüber gemacht, wie lange das wohl noch so weiter geht. Nicht negativ gemeint, aber wie lange kann das wohl realistisch noch so weiterlaufen, bevor es durch etwas anderes verdrängt wird?
Naja, ich würde sagen, dass Turbo sich seine eigene kleine Welt geschaffen hat.
Ja, das ist eine Sache, für die ich mich immer sehr glücklich geschätzt habe. Ich passe einfach nicht rein in diese normale Welt. Das war schon immer eine große Konstante in meinem Leben, auf jede erdenkliche Art. Das geht so weit, dass ich einfach nicht mehr weiß, wie es sich anfühlt, reinzupassen. Ich versuche es auch gar nicht mehr. Das Schöne daran ist, dass ich jetzt das Nirvana erreicht habe, in dem ich wirklich hundertprozentig von allen Trends losgelöst bin. Ich denke nicht mehr darüber nach, was andere Menschen vielleicht als Cool bezeichnen würden. Natürlich fühlt es sich super für dein Ego an, wenn du viel Lob bekommst. Und du willst auch, dass deine Arbeit gut ankommt. Aber wenn du nur Trends hinterherrennst, bist du am Arsch. Ich weiß nicht, ob das mal jemand zu mir gesagt hat, oder ob ich es irgendwo gelesen habe, aber es ist in etwa so: „Das einzige, das schlimmer ist, als komplett den Bezug zu deiner Umgebung verloren zu haben, ist, ihn nur teilweise verloren zu haben.”
Eine der guten Seiten von Langlebigkeit ist, dass du diesen Punkt erreichst—ich weiß, das klingt jetzt arrogant—an dem du dir sagst: ich bin ein Mann. Ich bin eine reelle Person. Das ist mein Leben. Sich wirklich darum zu scheren, was andere Leute über mein Leben denken? Das kommt nicht in Frage. Das ist auch ein Zeichen von Reife für mich, wenn die Priorität dein Leben zu leben einfach alles andere in den Hintergrund rücken lässt. Die Kehrseite davon ist, dass das natürlich nicht immer einfach ist. Manchmal muss auch alles ineinandergreifen. Ich denke da an die frühe Phase von Techno und an den Zeitpunkt, zu dem wirklich alles gepasst hat. Das ist der heilige Gral. Dieser Zeitpunkt, an dem das, was du liebst, plötzlich auch alle anderen lieben. Das ist der Moment, an dem du wirklich wächst.
Ich stand total auf 80er Electro, Techno, das Aufbrezeln, Lippenstift tragen—und viele andere Menschen hatten die gleichen Interessen wie ich. Inzwischen habe ich auch erkannt, dass es Zeiten gibt, in denen du viel Energie in die Dinge steckst, die du liebst, es aber einfach niemanden interessiert. Das ist keine Verschwörung. Es ist auch nicht so, dass die Menschen dich scheiße finden. Es interessiert einfach nur niemanden. Wenn du beide Positionen kennst, kannst du diesen Kreislauf erkennen und verstehen, an welchem Punkt du dich dort befindest.
Ich fand es schon immer faszinierend, eine Sprache zwischen Hörer und Künstler zu schaffen, durch die wir auf der gleichen Ebene über Musik sprechen können. Ich, als Hörerin und Journalistin, die den kreativen Prozess von außen betrachtet, habe festgestellt, dass es mehr ein Machen als ein Versuchen ist, wenn man sich selber als Künstler exponiert.
Das beschreibt es perfekt. Ich hasse Menschen, die pauschal über die Musik anderer Leute herziehen. Ich habe nichts dagegen, Menschen zu hassen—ich liebe es, andere Leute zu kritisieren, ich bin bestimmt kein Pazifist—, aber sobald du alleine in einen Raum gehst, dort ernsthaft versuchst Musik zu machen und diese dann veröffentlichst, bist du in meinen Augen völlig okay. Auch wenn es am Ende scheiße ist, ist es die Tatsache, dass du überhaupt oder trotzdem etwas machst. Ich kenne viele Menschen, die sagen, dass sie es viel besser machen würden oder könnten, wenn sie es denn versuchen würden. Ich sag ihnen dann immer nur „Na los, dann mach’ es einfach. Veröffentliche es und dann wirst du merken, wie sich das anfühlt.” Es ist wirklich nicht so einfach, wie die Leute denken.
Wie gut schaffst du es, Kritik und Feedback mit deinem eigenen kreativen Ansprüchen im Gleichgewicht zu halten? Auch angesichts deiner Routine: immer kurz vor dem Abgrund, immer unterwegs und ständig an Tracks arbeitend?
Es ist weniger ein Kampf mit der eigenen Persönlichkeit als damit, wie die Menschen ihr Leben leben und wie miteinander kommunizieren. Isolation ist extrem schwierig. Ich habe da diese Hass-Liebe zu Twitter entwickelt. Twitter passt perfekt zu meinem Temperament: Ich bin gerne aufbraused, ich stehe auf Einzeiler und ich beobachte Dinge. Bevor es Twitter gab, habe ich Freunde angerufen oder in mein Tagebuch geschrieben. Jetzt schicke ich diese Gedanken in die ganze Welt. Es ist ohne Frage etwas positives—aber selten so befriedigend, wie zwei Stunden einfach nur für sich zu schreiben. Komplett abgeschottet zu sein ist einfach beruhigend. Sich an der Öffentlichkeit zu beteiligen ist viel mehr mit deinem Ego und bestimmten Grundängsten verbunden, weil es natürlich etwas soziales ist. Das ist der Kampf daran.
Wirkt sich das auf deine Musik aus?
Naja, mit einem Album ist das sehr ähnlich. Sobald du anderen Menschen etwas vorspielst, bekommst du externes Feedback. Es ist unmöglich, sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Die Frage ist dann: wie damit umgehen? Die unschuldigen, reinen und auch albernen Gefühle werden dann verfälscht. Du kannst dich dann nicht mehr isolieren, also bleibt dir nichts anderes übrig, als dich in diesen wesentlich komplizierteren Gefilden zurechtzufinden. Dazu benötigt es viel Disziplin. Disziplin ist das wahre Geheimnis dahinter.
Tiga vs Audion, „Fever” 12″, Turbo Recordings, 6. April 2014, Vinyl / MP3
Tiga vs Audion Tour:
30.04. Berlin – Berghain
02.05. Glasgow – Pressure & Electric Fog: The Riverside Festival
04.05. London – Oval Space
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