Als mir vor einiger Zeit Karten zu einem Helene-Fischer-Konzert angeboten wurden, bejahte ich lauter, als ich an dieser Stelle zugeben möchte. Klar, es war die Sorte “Ja!”, mit der ich auch die Einladung zu einer kostenlosen Disney-Kreuzfahrt oder einer Ayahuasca-Zeremonie in Peru – zwei weitere Dinge, die ich mir relativ fürchterlich vorstelle – annehmen würde. Dennoch: Ich bin immer froh, neue Erfahrungen zu machen und einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.
Mein Wissen über Helene Fischer beschränkt sich auf ein Minimum. Ich weiß nur, dass sie 2013 einen Hit namens “Atemlos” hatte, der mir so einen massiven Ohrwurm bescherte, dass ich kurz in Betracht zog, mir Van-Gogh-Style mein Ohr abzuschneiden. Und ich habe außerdem mitbekommen, dass meine Schwiegermutter sie mit missbilligendem Unterton als “auf die falsche Spur geraten” bezeichnet, weil sie ihren “coolen Sound” (?) aufgegeben hat und jetzt nur noch richtigen Schlager macht.
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Als nerviger Millennial, der nicht mal eine neue Sonnenbrille anprobieren kann, ohne es seine Follower wissen zu lassen, thematisiere ich vorab auch meine Anwesenheit beim Wien-Stop von Helenes “Spürst du das?”-Stadion-Tour in meiner Instagram-Story. Überraschenderweise erhalte ich dafür sogar noch mehr Hass, als für dieses eine Mal, als ich gesagt habe, dass ich Dosenthunfisch liebe. Die Leute können es nicht fassen, dass ich zu Helene Fischer gehe.
“Bin enttäuscht, wie kannst du da bloß hingehen?”, wollen sie wissen, als hätte ich angekündigt, auf die Einladung zum Wandertag mit Sebastian Kurz einzugehen. Da sich die meisten der Menschen, die mir folgen, ja selbst eigentlich als “jung und aufgeschlossen” bezeichnen, vermute ich Schlimmes: Was, wenn es – ähnlich wie, ich geb’s ja zu, beim Dosenthunfisch – schockierende Fakten über Helene Fischer gibt, derer ich mir einfach nicht bewusst bin?
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“Vielleicht sind Fischer-Konzerte ja ganz schlimme, rechtsextreme Veranstaltungen? Ist Helene die Gateway-Droge zu Gabalier?”, frage ich mich, als ich am Mittwochabend mit meinem Freund Dominik am Weg ins Wiener Ernst-Happel-Stadion bin: “Hätte ich vielleicht nicht das Pailletten-Top tragen sollen, das nur mehr ‘Ich bin schwul!’ schreien könnte, wenn es regenbogenfarben wäre? Kassiere ich hier am Ende – irgendwann zwischen ‘Atemlos’ und ‘Herzbeben’ – noch ein blaues Auge?” Ich brauche Antworten!
Doch spätestens nachdem ich Platz genommen habe und eine Gruppe von jungen Frauen in Motorradjacken, von denen ich an dieser Stelle nicht mehr behaupten werde, als dass sie sich bestimmt jeden einzelnen Kristen-Stewart-Film ganz genau angesehen haben, mich für mein “steiles Outfit” lobt, weiß ich, dass ich mir keine Sorgen hätte machen müssen – zumindest meine Sitznachbarinnen wirken sehr aufgeschlossen.
Viel Zeit zum Plaudern bleibt uns auf jeden Fall nicht: Plötzlich wird die Bühne von Rauchschwaden in allen Farben des Regenbogens umhüllt, Helene betritt sie unter tosendem Applaus in einer Wonder-Woman-artigen Power-Pose, begleitet von Background-Tänzern, die so aussehen, als hätte sie sie direkt von Fire Island einfliegen lassen. Feuerwerkskörper zischen umher und die H-förmige, überdimensionale Videowall wird von aufregenden Farbmustern geziert, die mir zuletzt 2014 untergekommen sind, als ich im Club eine halbe Ecstasy-Pille genommen habe.
Das Helene-Fischer-Konzert ist mit Abstand die schwulste Veranstaltung, die ich je gesehen habe – und ich war bereits auf einigen Liza-Minnelli-Konzerten.
Dominik dreht sich zu mir und sagt: “Das dauert noch nicht mal fünf Minuten und ist bereits die aufwendigste Show, die ich je gesehen habe!”
Helene Fischers Schlager ist poppig. In ihr goldenes Mikrophon singt sie zu Beginn Songs wie “Flieger”, “Phänomen” und einen ziemlichen Ohrwurm mit dem Refrain “Keiner ist fehlerfrei! / Was ist denn schon dabei?”, den ich definitiv meinem Freund vorsingen werde, wenn er es mir das nächste Mal zum Vorwurf macht, dass ich meine benutzten Wattepads immer fälschlicherweise in den Papiermüll werfe. Aber es ist halt trotzdem Schlager und der ist leider einfach nicht mein Ding.
Es ist ähnlich, wie wenn mir jemand einen edlen Whiskey zur Verkostung reicht, der angeblich sehr teuer, selten und alt ist. Ich kriege bei den meisten von Helenes Songs nicht mehr hin, als ein paar Mal mit dem Mund “Oooh!” und “Aaah!” zu formen und zustimmend zu nicken. Ich bin sicher, es ist ganz toller Schlager, aber woher soll ich das schon wissen? Ich habe wohl ein paar Mal zu selten Willkommen bei Carmen Nebel gesehen, um die nötigen Vergleichswerte zu haben.
Aber man muss zum Glück auch keinen Schlager lieben, um an einem Abend wie diesem auf seine Kosten zu kommen. Das Helene-Fischer-Konzert ist mit Abstand die schwulste Veranstaltung, die ich je gesehen habe – und ich war bereits auf einigen Liza-Minnelli-Konzerten. Auf der gigantischen Bühne passiert im Minutentakt eine neue Verrücktheit, die auf der Kinsey-Skala mit Sicherheit ganz weit oben liegt.
Glitzerbomben explodieren! Helene singt den Gloria-Estefan-Hit “Conga”! Sie führt diesen sexy Beyoncé-Sessel-Tanz auf, den wir alle so lieben, und im nächsten Moment rast sie auch schon auf einem Gefährt, das ich rückblickend betrachtet als “Helene-Mobil” bezeichnen würde, durch das Stadion und schwingt bunte Fahnen, auf denen ein überdimensionales “H” zu sehen ist. All das während sie wahllos inspirierende Sätze wie “Spürst du die Freiheit auf deiner Haut? Sei ein Schmetterling!” ins mittlerweile silberne Mikrofron (ja, sie wechselt ihr Mikrofon je nach Outfit) haucht. Ich schwöre, ich denke mir diese Dinge nicht aus!
In den ulkigeren Momenten des Abends lasse ich meinen Blick durch die Publikumsränge schweifen, um zu erfahren, wer denn die Menschen sind, die für diesen schieren Wahnsinn ihr hart verdientes Geld ausgeben. Eine Karte kostet zwischen 50 und 250 Euro. Ich finde es schön, zu sehen, dass hier wirklich Menschen aus allen Sparten des Lebens vertreten sind: Paare in Tracht, ältere Damen in Disko-Fummeln, Mädelsrunden, Kinder und sogar die ein oder andere Bro-Partie.
Unfassbar! Dem grölenden Schlager-Publikum wird hier Gay Content serviert und sie checken es nicht mal; ähnlich wie wenn man für Kinder Brownies mit Brokkoli drin bäckt. Ob denen überhaupt bewusst ist, dass selbst die Las-Vegas-Revue einer gewissen Celine Dion weniger LGBT-friendly ist als diese Kirmes der Crazyness?, frage ich mich.
Helene Fischer schürt ein ganz heißes Eisen und sie rammt es mitten in mein Herz. Ich stehe kurz davor, so richtig dicke, hässliche Tränen zu weinen, wie zuletzt am Ende von Marley & Ich.
Die Antwort folgt auf den Fuß. In einem der wenigen ruhigen Momente der Show singt Helene einen Song namens “Von hier bis unendlich”, der den anwesenden Paaren zum Anlass dient, noch einmal so zu tun, als würden sie sich nach all den Jahren der Beziehung nicht insgeheim ein kleines bisschen hassen. Sie küssen sich, und ich rolle mit den Augen.
Doch als auf den überdimensionalen Video-Walls plötzlich ein eng umschlungenes schwules Paar zu sehen ist und ausnahmslos alle Leute im Stadion anfangen für sie zu jubeln und zu applaudieren, ist es um mich geschehen – ich platze fast vor Rührung! Helene Fischer schürt ein ganz heißes Eisen und sie rammt es mitten in mein Herz. Ich stehe kurz davor, so richtig dicke, hässliche Tränen zu weinen, wie zuletzt am Ende von Marley & Ich.
Da wird es mir klar: Die Leute hier sind vieles, aber definitiv nicht die intoleranten Schlager-Schafe, für die ich sie gehalten hatte. Der Einzige, der hier Vorurteile hat, bin wieder mal ich. Es ist wirklich sehr ergreifend und ich überlege, meine feuchten Augen kurz mit “Ups, da muss wohl Glitzer von der Bühne in mein Auge geweht sein!” zu rechtfertigen, aber dann lasse ich die Tränen einfach zu. Ich finde das hier alles in diesem Moment einfach wunderschön! Ich würde sogar behaupten, ich fühle mich wie ein Schmetterling.
Nach dieser Achterbahnfahrt der Gefühle ist der restliche Abend zum Glück smooth sailing. Es kommt nochmal das Helene-Mobil, mehr akrobatische Kunststücke der Six-Pack-Crew und ein besonders verwirrender Moment, in dem Frau Fischer verkündet, sie habe vorhin “mit ihm da oben” gesprochen und ihn darum gebeten, dass das heute “eine geile Nacht” wird. Singen, Tanzen, mit Gott reden: Was kann sie eigentlich nicht?
Als schließlich “Atemlos” – der einzige Song, den ich vorher wirklich kannte – gesungen wird, erwische ich mich dabei, wie ich plötzlich aufstehe, tanze und sogar mitsinge. Während ich mich, ähnlich wie bei den meisten Besuchen bei meinen Großeltern, am Anfang noch richtig dazu zwingen musste, ein bisschen Enthusiasmus an den Tag zu legen, ist die Begeisterung mittlerweile echt. Ich stehe sogar kurz davor, meiner Schwiegermutter in einer SMS mitzuteilen, dass Helene noch immer ziemlich cool ist. Das war eine super Show; da kann man schon mal klatschen!
Bin ich jetzt also ein Helene-Fischer-Fan? Na ja. Die Musik ist noch immer nicht mein Fall, aber ich verstehe jetzt, warum ihre Fans, die mich an diesem Abend ebenfalls überrascht haben, sie so sehr lieben. Ich bezweifle, dass ich mir Tickets für ihre beiden weiteren Wien-Stopps der “Spürst du das?”-Tour im September sichern werde; ähnlich wie bei einer Whiskey-Verkostung sage ich auch hier: “Einmal reicht mir, danke!” Aber über diesen besonderen Abend im Ernst-Happel-Stadion kann ich definitiv behaupten: Ja, Helene, ich hab’s gespürt!
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