Im Januar beschloss eine Gruppe Wikipedia-Autorinnen und Autoren, NFTs nicht in die Liste der teuersten Kunstwerke lebender Künstlerinnen und Künstler aufzunehmen. Auch wenn die Online-Enzyklopädie keine Instanz der Kunstwelt ist, legt sie für viele Menschen fest, was wahr ist und was nicht. Und in einer Abstimmung beschloss man, dass NFTs keine Kunst sind. Die NFT-Community war nicht begeistert.
NFT steht für Non-Fungible Token. Dabei handelt es sich grob gesagt um digitale Quittungen für digitale Wertgegenstände. Ja, jeder kann rechtsklicken oder einen Screenshot machen und sich das entsprechende Bild oder GIF speichern, aber darum geht es bei NFTs nicht. Es geht darum, dass jemand das spezielle digitale Artefakt auch technisch besitzt – was immer es ist. Ein Beispiel: Möchte man von einem digitalen Kunstwerk eine limitierte Auflage von 100 Stück herausgeben, kann man jedem einzelnen eine Seriennummer in der Form eines NFT geben. Obwohl die Kunstwerke alle gleich aussehen, kann man die Echtheit jedes einzelnen belegen und Kopien erkennen. Abgesichert ist das ganze wie Kryptowährungen über eine Blockchain.
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Die kulturelle Interpretation von NFTs unterscheidet sich allerdings sehr von ihrer technischen Bedeutung. Für ihre Fans bilden sie die Eckpfeiler einer Community, deren Anhänger die digitalen Werke auf Bildschirmen an Rucksäcken mit sich herumtragen, sie als Twitter-Profilbilder verwenden und sich in exklusiven Discord-Foren unterhalten, in die man nur durch einen NFT-Kauf kommt.
Und dann sind da die Menschen, die einfach nicht darüber hinwegkommen, wie verdammt hässlich die meisten NFTs sind.
Man muss nur einmal durch einen NFT-Markplatz wie Nifty Gateway oder OpenSea scrollen, um zu sehen, dass die Kritikerinnen vielleicht nicht so unrecht haben. Werfen wir zum Beispiel einen Blick auf die ausverkauften CryptoSharks. Das Design ist mehr schlecht als recht von einem Promo-Poster für den Film Shark Tale – Große Haie, kleine Fische abgekupfert, auf das man verschiedene Hintergründe und kitschige Accessoires geklatscht hat.
Selbst die ganz großen NFTs wie CryptoPunks, CryptoKitties, The Bored Ape Yacht Club oder die Lazy Lions sind ästhetisch wahrlich keine Offenbarung. Jedes dieser Projekte besteht aus 10.000 NFTs, die leichte Variationen eines Porträts enthalten. Hergestellt werden sie in der Regel von einem Programm, das nach dem Zufallsprinzip den Bildebenen verschiedene Accessories, Gesichtsausdrücke und Farben zuteilt. Besonders kompliziert ist das nicht. Man braucht noch nicht mal Programmierkenntnisse, um ein NFT zu erstellen. Sie werden einfach von Maschinen ausgespuckt.
Aber gut, ist das letztendlich nicht auch Geschmackssache? Ist unser abfälliger Blick auf die Ästhetik beliebter NFTs mehr als elitäres Kunstgehabe?
In den Diskussionen über NFTs geht es vorrangig um Blockchains, Märkte, Communitys, Dezentralisierung, Sammeln und vor allem darum, wie viel Geld Leute damit verdienen. Die Wenigsten reden über die Ästhetik von NFTs. Selbst bei Everydays: The First 5.000 Days von Beeple, das als “erstes rein digitales Kunstwerk” vom alteingesessenen Auktionshaus Christie’s versteigert wurde, schien der visuelle Inhalt zweitrangig zu sein. Für unfassbare 69 Millionen US-Dollar gingen die NFTs an ein Unternehmen, dessen Sprecher gesagt haben soll: “Wir brauchen keine Vorschau.” Anscheinend reichte die Gewissheit, dass sich die Werke im Wert noch steigern werden, um dafür dermaßen viel Geld hinzublättern.
Laut J.J. Charlesworth, einem britischen Kunstkritiker und ArtReview-Redakteur, weiß die Kunstwelt selbst nicht so genau, mit was sie es hier eigentlich zu tun hat. “Wenn man versucht, die Standards der Kunstwelt an NFTs anzulegen, geht man an der eigentlichen Sache vorbei. Ein Großteil des NFT-Markts basiert auf Sammelobjekten. Es hat schon immer eine präsente Sammelkultur gegeben – von Comics, über Sneaker bis hin zu Baseball-Karten –, die sehr mainstream ist.”
Stattdessen spiegeln NFTs die Interessen und kulturellen Perspektiven der Menschen wider, die sie sammeln. Erfolgreiche Projekte basieren auf einer Gemeinschaft aus Gleichgesinnten, dem bisherigen Werdegang ihrer Schöpfer und dem, was in der Zukunft mit den Werken passieren soll – zum Beispiel, ob sie irgendwann Teil von Videospielen werden sollen. Typische Aspekte von Kunst – die Komposition, die Farbpalette oder das Thema – sind hier weniger wichtig.
“Seien wir ehrlich, viele NFTs sind ziemlich dumm”, sagt Charlesworth. “Bored Apes hat eine typische Sammlerästhetik – visuell ist das Projekt nicht besonders spannend. Aber vieles davon will auch gar nicht große Kunst sein.” Bei diesem NFT-Projekt gab es bereits eine Kollaboration mit Adidas und möglicherweise bald Bored-Apes-Filme, -Bücher und andere Medienprojekte. Damit hat es eher die Funktion einer globalen Marke als von einem Kunstwerk.
Wir sollten aber auch nicht vergessen, wo NFT-Sammlerobjekte herkommen. Die Wurzeln reichen zurück bis 2016, als sehr internetaffine Menschen, meist Männer, über die Bitcoin-Plattform CounterParty Pepe-Memes tauschten und sammelten.
Wenn man bedenkt, dass die Kerngruppe wahrscheinlich schon Kryptowährungen hortete, bevor die Kurse durch die Decke gingen, versteht man allmählich, woher dieser Hunger nach memeartiger, gimmikhafter und künstlerisch mittelspannender Ästhetik kommt.
“Wir haben hier eine neue Klasse von Superreichen und Kryptomilliardären, die nichts haben, um ihre Macht und ihren Reichtum zu zeigen”, sagt Charlesworth. “Jemand mit einer Milliarde in Bitcoin wird diese wahrscheinlich nicht in ein traditionelles Kunstwerk investieren, das man physisch lagern und bewegen muss. Diese Person will etwas, das ihrem Lifestyle gerechter wird.”
Man darf natürlich nicht verallgemeinern – oder besser: zwei komplett unterschiedliche Dinge durcheinanderbringen.
“Das ist, als würde man sagen, dass Pokémon-Karten das Kunsthandwerk zerstören würden – das sind zwei komplett verschiedene Dinge”, sagt Diana Sinclair, Mitbegründerin von Herstory DAO – einem Krypto-Kollektiv, das es sich zum Ziel gesetzt hat, marginalisierte Menschen aus der Szene zu unterstützen. Auch wenn Untersuchungen ergeben haben, dass die NFT-Ökonomie genauso ungleich ist wie die echte Wirtschaft, sagen Künstlerinnen wie Sinclair, dass sich dadurch für sie und andere traditionell vom Kunstbetrieb ausgeschlossene Menschen neue Möglichkeiten eröffnet hätten. Sie findet es wichtig, auch im digitalen Raum zwischen Sammlerstücken und Kunst zu unterscheiden – so wie wir es in der physischen Welt auch tun.
Dank NFTs konnte die 17-Jährige eine digitale Ausstellung mit Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzen Welt kuratieren, mit der Whitney Houston Stiftung an digitaler Kunst arbeiten und an der Art Basel in Miami teilnehmen. Sie sagt außerdem, dass NFTs es ihr ermöglicht hätten, ihren Kreis an potenziellen Sammlern zu erweitern sowie den traditionell elitären Kunstbetrieb zu umgehen.
Heute habe sie genug Geld verdient, sagt Sinclair, um aufs College verzichten und sich ganz auf ihre Kunst konzentrieren zu können. Das Geld sei aber auch nicht der ausschlaggebende Punkt ihrer Arbeit.
“Einer meiner Käufer hat sich in eins meiner Werke verliebt, weil ihn das blaue Licht auf dem Gesicht an etwas aus seiner Kindheit erinnert hat, wegen dem er mit Graffiti angefangen hatte. Er war bereit, 30.000 US-Dollar für diese Verbindung zu dem Werk auszugeben, nicht weil er glaubte, es für noch mehr Geld weiterverkaufen zu können”, sagt Sinclair. “Ich fand das wunderschön.”
Die ganze Aufregung und Häme über Paris Hiltons und Jimmy Fallons Austausch von drögen Affenbildchen verdeckt die Tatsache, dass es mehr als eine Art von NFT gibt. Einige dieser Werke zeigen spannende Anwendungen der neuen Technologie wie zum Beispiel die Videoperformancekunst von Katherine Frazer, die sich mit der körperlichen Autonomie von Frauen auseinandersetzt. Andere wie IX Shells erschaffen mit raffinierten Programmiercodes wunderschöne digitale Kunst. Bei diesen Werken geht es nicht in erster Linie darum, für wie viel Geld sie verkauft werden, sondern um ihre komplexen Themen und ihre Ästhetik.
Was macht Kunst überhaupt zu Kunst? Diese Debatte ist viel älter als NFTs. Als Marcel Duchamp ein handelsübliches Urinal als Skulptur ausstellte, kriegten sich die damaligen Kunstkritiker vor Empörung kaum ein. Heute gilt sein Urinal als eins der zentralen Werke der modernen Kunst. Vielleicht werden wir ja eines Tages ähnlich auf CryptoPunks oder Bored Apes blicken.