Ich habe das Kai-Ebel-Syndrom: Immer zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich meine damit, dass ich stets woanders bin, wenn etwas Spannendes passiert. Beim G20-Gipfel etwa bin ich nicht in Hamburg geblieben, wo ich herkomme und wohne, sondern irgendwohin gefahren, ich glaube, in die Lüneburger Heide. Als Malibu abbrannte vor zwei Jahren, war ich zwar vor Ort, lag aber mit Fieber im Hotelbett. Als ich wieder aufstehen konnte, waren die Brände gelöscht und die Strände verkohlt. Das sind jetzt bloß zwei von hundert Beispielen. Aber diesmal, diesmal war ich endlich mal dort, wo es passiert ist.
Ich war im Berchtesgadener Land, während es in den Lockdown geschickt wurde.
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Aus journalistischer Perspektive muss ich mir auf die Schulter klopfen: tolles Timing, hellseherisch die Pandemieentwicklung antizipiert. Dieser Eishauch der Geschichte in meinem Gesicht! Nur war ich ja nicht als Journalist gekommen, sondern als ruhebedürftiger Kurgast, als Privatmann – wenn auch gesetzlich versichert. Für mehr hat es nicht gereicht. Für Bad Reichenhall schon. Und ich war nicht der Einzige.
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Von Beginn an hatte unter uns lungenkranken Kurgästen eine rührige Solidarität geherrscht. Schon im Frühstücksraum der Kurklinik hatten wir uns permanent zugenickt und angelächelt, froh, dieser Pandemie ein Schnippchen geschlagen und es hierher geschafft zu haben. Das war Samstag, drei Tage vor Söders Pressekonferenz, vor der Tagung des Krisenstabes und ehe die Polizei einrückte. Wobei man mit solchen Beschreibungen vorsichtig sein muss. Man neigt im Ausnahmezustand dazu, in allem Zeichen zu sehen. Aber nicht alles ist immer so, wie es scheint. Tage später las ich, dass ein Mann am Hauptbahnhof von Bad Reichenhall randaliert hatte, vielleicht waren die zehn Polizeiwagen, die ich während meiner überstürzten Flucht sah, auch seinetwegen gerufen worden. Im Kurmittelhaus der Moderne, wo die meisten unserer Behandlungen stattfanden, erzählten wir Lungenkurgäste einander jedenfalls viel zu laut, an welchen herculeshaften Aufgaben wir unsere gestärkten Lungen alsbald messen wollten. Ein Senior aus dem Badischen prahlte stolz, für einen Halbmarathon zu trainieren, die diesbezüglichen Schuhe habe er sich schon bestellt. Er zeigte uns Fotos aperolfarbener Asics. Wir beglückwünschten ihn. Wolf aus Tauberbischofsheim plante seinen ganzen nächsten Sommer auf dem Jakobsweg. Mir würde es reichen, rief ich, nicht mehr nach einer Treppenstiege außer Atem zu sein. Weil das den anderen nicht ehrgeizig genug erschien, fügte ich schnell hinzu: Ich möchte wieder mehr Tennis spielen, und an meinem Grundlinientempo arbeiten. Das kam an.
Wenn mich eines Tages meine Tochter fragt, wo ich war, als der Lockdown, also der erste richtige Lockdown in Deutschland, verordnet wurde, dann werde ich sagen: Ich war dort, ich war genau im Lockdown. Und dann wird sie mich fragen: Was hast du denn da gemacht, Papa? Und ich werde sagen: Ich war auf Lungenkur. Und sie wird sagen: Warum warst du denn auf Lungenkur in dem Landkreis, in dem das Virus explodiert ist? Ist das nicht ein bisschen blöd? Und ich werde keine Antwort wissen, aber vielleicht sagen: Lass dir das eine Lehre sein.
Nur wofür?
Vielleicht dafür, wie man die Ruhe behält. Erstaunlich ruhig sind nämlich alle noch am Samstag, als der Inzidenzwert bei 157 liegt und ich schon viele Whatsapps ignorieren muss, die mir ankündigen, man werde mich “auf jeden Fall da rauszuholen”, gerade so, als sei ich nicht in der Biergartenwelt Oberbayerns, sondern in Jemen zwischen die Milizen geraten. Auch am Sonntag, als der Wert über die 200er Marke klettert, hält der Frieden, den wir mit uns geschlossen haben. Im Frühstücksraum erzählen sich manche, Geschwister auf dem Land hätten ein privates Oktoberfest gefeiert mit fast 1.000 Gästen. Man muss auch aufpassen, dass man solchen Übertreibungen jetzt nicht blindlings aufsitzt, aber uns Sorgen machen – nein, müssen wir nicht. Wir sind doch sicher, oder? Wir in der Kurbetriebsblase, die wir jeden Morgen Fieber gemessen bekommen und in die Infrarottherapie gehen oder vor die Gradierwand. Was die Gradierwand ist, muss ich noch erzählen.
Die Gradierwand ist das Herz von Bad Reichenhall. Vielleicht auch die Lunge. Sie ist 163 Meter lang und 23 Meter hoch und steht mitten im königlichen Kurpark, wie ein riesiges, unbegreifliches Ding, ein schwarzer Monolith aus einer anderen Welt. Sie tropft und riecht und soll uns alle gesund machen. Sie wurde eigentlich mal gebaut, um Salz zu gewinnen, und in den Kurbetrieb überführt, als das Weiße Gold nicht mehr lukrativ genug war. Auf der Gradierwand werden die Tropfen der Alpensole durch den verästelten Reisig des Schwarzdorns zerstäubt, und die angereicherte Luft soll man atmen, am besten auf der windabgewandten Seite. Man kann die Gradierwand umrunden, was wir Lungenkranken natürlich mehrmals am Tag tun. Es ist wie damals mit dem Schwarzen Quadrat von Malewitsch: Wir meditieren davor, wir verstehen nicht, was wir sehen, und sind dennoch froh. Ich habe vor meiner Kur einiges über die Gradierwand gelesen und bin trotzdem überwältigt, als ich zum ersten Mal davor stehe. Die Sonne des späten Samstags fällt spektral ein. Ich muss weinen. In mir ist so ein Gefühl, vor dieser Wand könne sich alles zum Guten wenden.
Nur die Inzidenz wendet sich eben nicht mehr und explodiert auf 252,1 am Montag. Ist das viel? Das ist der höchste Wert in ganz Deutschland. Bad Reichenhall hat etwa 18.000 Einwohner, das Berchtesgadener Land 105.000. Es ist alles relativ. Und es ist uns relativ egal, dass der Ausbruch womöglich auf eine Shisha-Bar zurückzuführen sein soll, das melden jedenfalls die Zeitungen und erzählen wir uns deshalb eifrig, denn in Shisha-Bars wollen wir wirklich nicht. Man muss generell viel verdrängen als Risikopatient im Risikogebiet.
Dann geht aber alles ganz schnell: Söder kündigt “eine Art Lockdown” an, der lokale Krisenstab präzisiert den richtigen Lockdown und wir wissen endlich Bescheid und trotzdem gar nicht, was wir jetzt tun sollen. Hotels werden geschlossen, Geschäfte auch, Restaurants machen nur noch Take-Away. Am Vorabend des Lockdowns schleichen die Reichenhaller durch ihre Stadt wie Touristen: nochmal alles angucken, bevor man sich zwei Wochen in den Wohnungen verbunkert.
Natürlich tun sie mir leid, aber noch mehr tue ich mir selbst leid. Was macht man, wenn es einem schmerzt? Man schaut auf die, die noch ärger dran sind. Die Alten, für die unsere Kur sicherlich noch wichtiger gewesen wäre als für mich, und die deren jähes Ende gewiss mehr trifft als mich. Die Eltern, denen jetzt drei oder sechs oder fünfzehn Stunden mit ihren sieben Kindern im Kombi bevorstehen, und die es bestimmt nicht mal ins Murmeltiergehege am Obersalzberg geschafft haben, obwohl das doch versprochen war. Nicht zuletzt vier Tokioter, die mit mir im Kurhotel am Hang untergebracht waren. Als Touristen, nicht als Pflegebedürftige, das hatte mir die Bedienung vom Frühstücksbuffet zugeflüstert, und auch, dass die vier ihren Jahresurlaub für die Voralpengegend aufgewendet hatten. Fortan war ich ihnen immer wieder begegnet, was sich zugegebenermaßen auch gar nicht vermeiden ließ, denn die Tokioter wuselten lustig von hier nach da, sich dabei in einem fort fotografierend, nach der Façon eines Belgischen Kreisels aus der Tour de France, also so, dass immer der Vorderste der Gruppe die Kamera nehmen und dann rückwärts gehen und die anderen fotografieren musste. Einmal sah ich sie, wie sie sich vor dem Aldi am Bahnhofsplatz für ein Selfie aufbauten und dabei abklatschten. Früher habe ich immer gedacht, Jahresurlaub bedeute, man mache ein ganzes Jahr Urlaub. Noch so eine Enttäuschung in meinem an Enttäuschungen nicht armen Leben. Wie wohl die vier Tokioter reagiert haben, als man ihnen die Kunde vom Lockdown zutrug? Vielleicht gibt es eine Chance für sie, in einen benachbarten Landkreis auszuweichen, in den Chiemgau zum Beispiel? Ich würde es ihnen gönnen. Für uns Kurgäste gibt es die Gelegenheit nicht. Der Chiemgau ist schön, aber kein Luftkurort. Was ich sagen möchte: An diesem Vorabend ist es plötzlich vorbei mit der Solidarität, die uns bis dato zusammengeschweißt hat. Jeder guckt nur noch auf sich selbst. Und in den Wirtshäusern der Region guckt man, dass man sich einen letzten Krustenbraten reinfährt und ein paar Helle. Im Kammerer Bräu in der Poststraße ruft die Wirtin: “Bis morgen 13:59 Uhr kriegt ihr von mir alles, was ihr wollt!” Es klingt verzweifelt. Ich tue, was einem als vernünftiger Kurgast nun noch zu tun bleibt: Ich betrinke mich schnell und gehe früh zu Bett, wohl wissend, dass ich 45 Minuten bis zur Landkreisgrenze brauchen werde am nächsten Tag. Ich werde nach Bayreuth fahren, weil Bayreuth ja die schlimmste Stadt in ganz Deutschland ist und ich mir denke, so könne ich die deprimierende Erfahrung im Berchtesgadener Land überblenden. Bayreuth ist genau genommen ein einziger Witz, der berühmte Wagnerhügel ein vollgeschissener Hang, das Festspielhaus sieht aus wie eine Turnhalle und die Reststadt besteht ausnahmslos aus Physiotherapiepraxen. Aber das ist eine andere Geschichte. Bayreuth kann eigentlich nichts dafür, und erstmal muss ich überhaupt hinkommen.
Am nächsten Morgen stehe ich früh auf. Sechs Stunden bis zum Lockdown. Ich will große Gesten sehen, vielleicht Proteste, sich in den Straßen zusammenrottende Massen, mit Mistgabeln bewehrt, Fackeln schwenkend. Aber nein. Nur eine sonderbare Stille hat sich über den Ort gelegt. Niemand verrammelt seine Fenster, keiner schreit seine Wut in den blauen Himmel. Der Lockdown vollzieht sich nicht äußerlich, sondern in den Menschen drinnen. Er ist in sie eingewandert. Man merkt es an der Art, wie sie sich jetzt zunicken, nämlich plötzlich nur noch sehr knapp und traurig, ohne diese bajuwarische Zuversicht, das Kräftige, Lederhosenhafte, Anpackende. In dem Nicken nicht mehr die Freude, sich zu sehen, sondern die Trauer, sich für einige Zeit eben zum letzten Mal zu sehen. Uns Fremden wird gar nicht mehr zugenickt. Wir können ja fliehen. Das ist wahr, verkennt aber unsere Stimmung: Lieber würden wir doch bleiben, ihr Reichenhaller!
Man kann den Lockdown sogar hören, er kündigt sich sozusagen dialektisch an: Bis gestern haben die Menschen hier ihren Ministerpräsidenten noch den Markus genannt. Der Markus werde dieses tun oder jenes lassen. Das klang ein bisschen genervt, aber doch auch liebevoll, als rede man über ein verzogenes Kind, das einfach nicht vernünftig werden mag. Über Nacht ist aus dem Markus aber der Söder geworden. Der Söder werde sich schon wundern, wo er mit seinem Kurs lande. Der Söder müsse ja irgendwas tun. Der Söder spinne wohl. Ich will den Frustrierten was Ermutigendes zurufen, vielleicht wie einst General Massu zu De Gaulle: “Vous êtes dans la merde, il faut y rester encore.” Aber nichts hilft.
Vor dem PARK-KINO sperrt der Betreiber die kleine Litfasssäule mit den plakatierten Filmen auf, sammelt die Zettel mit den Vorführungszeiten ein und faltet sie sich umständlich in die Innentasche seiner Steppjacke. Viele Geschäfte öffnen gar nicht mehr, obwohl sie noch dürften, was wiederum diejenigen listig nutzen, die nochmal ihre Waren in der Fußgängerzone feilbieten. “Salz & Körper” etwa, der sein Sortiment schon in Gänze auf monströse Weihnachtssterne und -männer disponiert hat. Aber Weihnachten, was war das nochmal? Man muss die Feste feiern, bevor sie fallen. Erst ist die Rente nicht mehr sicher und jetzt der Heiligabend. Vielleicht wird Weihnachten auch einfach von Söder abgesagt. Ein paar Schaufenster weiter hängen Trachten und Dirndl im Dekor, nur sehen sie plötzlich aus wie Fundstücke eines Museum, das eine Epoche Bayerns ausstellt: Der Freistaat im Lockdown. Eine Bäckerin reicht mir meine Käsesemmeln mit den Worten: “Wir sind doch nur die Ersten.” Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht wird im Berchtesgadener Land schon mal getestet, wie das denn so geht mit dem richtigen Lockdown, stellvertretend für die ganze Republik. Für mich das Bild des Tages, ach nein, meiner Zeit in Bad Reichenhall, ach was, der ganzen Pandemie: Wie im Kurpark der städtische Reinigungsmann mit einem langen Kescher die Blätter aus dem prächtigen Solebrunnen fischt, dann aber innehält, den Kopf schüttelt und die Blätter zurück in den Brunnen kippt. Es ist jetzt auch egal.
Die Wege, die sonst noch vor Sonnenaufgang geharkt und gebügelt wurden, verwahrlosen plötzlich. Alles soll unter dem Laub der Kastanien versinken. In zwei Wochen wird man das Berchtesgadener Land ausbuddeln müssen. Wenn sich dann noch irgendwer seiner erinnert.
Ein paar Kurgäste, darunter ich, bleiben bis zum bitteren Ende, und wir werden belohnt. Sie sperren uns die Gradierwand nochmal auf, die am Vorabend bereits dichtgemacht worden war! Wie die Lemminge laufen wir ihr zu, umrunden sie, aggressiver als an den Tagen zuvor. Mantren gleich murmeln wir vor uns hin, dass wir wiederkommen werden. Hoffentlich. Wieder stäubt das riesige, schwarze, bezackte Ding seine Sole auf uns hinab, nur diesmal wirkt es anders. Völlig klar auf einmal: Auch die Wand weint.