Nass, verkatert und zitternd treffe ich Henning May von AnnenMayKantereit zu unserem ersten Date. Das ein ziemlicher Fail werden sollte, wenn man von einem ersten Date Perfektion erwartet. So gut wie alles ging schief. Eigentlich wollten wir zum Spiel der Frauenmannschaft von Fortuna Köln gehen. Es regnete. Es war kalt. Und statt Kerzenschein und Fleischbällchen-Pasta in Paris gab es am Ende erloschene Scheinwerfer und trockenes Toast in Köln. Da Perfektion aber eh eine Illusion ist, die uns unglücklich und krank macht, war das OK so.
Es war nicht nur OK, es war vielleicht genau richtig so. Am Ende also irgendwie doch perfekt. Denn auch wenn alles schief geht: Das Beste aus der Situation zu machen, die Kronkorken knallen zu lassen und die Kälte aus den Knochen zu lachen, ist eine Qualität, die sehr viel erstrebenswerter ist als Perfektion.
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Aber das alles konnte ich noch nicht ahnen, als ich Henning vor einer Bäckerei traf.
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Nina: Du hältst es also für eine gute Idee, für ein Date Ende November auf ein Fußballspiel im Freien zu gehen?
Henning May: Frauenfußballspiel! Ich hab ja nie Dates. Deswegen bin ich etwas unerfahren, was angemessen ist.
Du hast nie Dates?
Vor allem hab ich nie Dates mit Frauen, die vorher Farid Bang gedatet haben.
Ja, die Latte hängt hoch …
Beängstigend. Deswegen habe ich vielleicht Fußball ausgesucht. Das ist so undatig. Ich denke mir … Sollte das nicht einfach passieren? So natürlich? Man trifft sich zufällig, dann wieder, irgendwann ist man betrunken und etwas passiert.
Sehe ich genauso.
Deswegen gehen wir jetzt erstmal ein Wegbier holen.
Ich muss dir vorher etwas beichten: Ich bin sehr verkatert.
Oh, dann sogar noch besser! Meistens geht es einem danach besser.
Oder es wird gekotzt. Das heißt, entweder nimmst oder rettest du mein Leben heute bei unserem ersten Date.
Gute Voraussetzungen. Was sind denn so die Themen, die man bei einem ersten Date besprechen muss? Polygamie, Treue …
Wir können gerne über Polygamie sprechen. Was hältst du davon?
Ich finde es super, wenn man das möchte. Soll jeder selbst entscheiden, ob er damit zurecht kommt oder nicht.
Schon mal ‘nen Mann geküsst?
Natürlich! Hast du noch nie ‘ne Frau geküsst?
Doch, klar! Aber unter Frauen ist das ja auch gesellschaftlich nicht so tabuisiert wie unter heterosexuellen Männern. Was ich sehr schade finde.
Ja, total. Ich hab mal mit Malte auf der Bühne rumgeknutscht, das war ein sehr guter Kuss. Ich glaube, beim Fußball knutschen auch viele Jungs. Kuscheln und Küssen kommt in Freundschaften viel zu kurz, vor allem in gleichgeschlechtlichen. Gerade bei Männern herrscht da eine riesige Unsicherheit, wo die Grenze liegt. Viele Männer haben ja auch Angst vor der eigenen Bisexualität.
Ich glaube ja, Sexualität hat man sich wie eine Skala vorzustellen, auf der sich jeder unterschiedlich weit zwischen den beiden Polen bewegen kann.
Sehe ich auch so. Und vor allem Männer haben eine solche Angst davor, vorschnell ein Etikett verpasst zu kriegen, dass sie selbst platonische Körperlichkeiten nicht zulassen möchten. Obwohl das ja teilweise auch sehr widersprüchlich ist. In der Fußballumkleide zum Beispiel, da hat keiner ein Problem damit, wenn man sich auf den Arsch haut. Das gehört sogar komplett dazu.
Du hast kein Problem mit platonischen Zuneigungsbekundungen?
Gar nicht. Wir können uns alle in der Band in den Arm nehmen, in die Seite zwicken und eine freundschaftliche Kopfnuss geben, wenn einer grad ‘ne scheiß Zeit hat. Kennst du das, wenn man gewisse Menschen plötzlich streicheln will?
Inwiefern streicheln?
Also ohne eine sexuelle Komponente. Einfach aus Zuneigung, weil man die Person nett findet. So einen süßen, bärtigen, dicken Biologiestudenten, den jemand in deine WG schleppt zum Beispiel. Ich neige dann dazu, Leuten über die Schläfe zu streicheln. Ich finde die Schläfe ist eine schöne Stelle dafür.
Machst du das öfter?
Wenn man den deutschen Durchschnitt betrachtet, würde ich mich bei den Top fünf Prozent der Streichler einordnen – sogar wenn man Familie, Freunde und Freundin weglassen würde. Ich komme ja öfter in Situationen, wo mich fremde Menschen einfach umarmen. Die spüren eine intensive Connection zu mir durch meine Musik, die ich zu ihnen aber natürlich gar nicht habe. Wenn sie dann auf mich zustürmen und mich drücken wollen, stehe ich immer vor der Wahl: Mach ich jetzt einen auf “Fass mich nicht an!” oder lass ich es einfach zu und streichel die Schläfe [lacht]? Aber wenn Leute so emotional werden, fällt es mir wirklich schwer, abweisend zu sein.
Wir kommen an dem Fußballfeld an, wo das Spiel stattfinden soll. Verdächtig viele Menschen strömen in die entgegengesetzte Richtung, wir sind verwirrt. Die erste enttäuschende Erkenntnis macht sich breit: Heute spielt nicht die Frauen-, sondern die Männermannschaft. Dann folgt die zweite Hiobsbotschaft, sie leuchtet verräterisch vom Himmel auf uns herab: Die Flutlichter glimmen langsam aus, die Reste des apricotfarbenen Lichts kämpfen sich gerade noch so durch das ewige Grau des Novembers, das besonders schwer über diesem Samstag zu liegen scheint. Offenbar wurde das Spiel soeben abgebrochen.
Wir entscheiden uns, trotzdem eine Wurst zu holen, um wenigstens irgendwas vom heutigen Plan in die Tat umzusetzen. Beim Würstchen-Stand sind die Brötchen aus. Dafür dürfen wir immerhin mit Bargeld bezahlen, normalerweise muss man das vorher in Bons umtauschen.
Da wir gerade bei Date-Fragen waren: Bist du Team Ketchup oder Senf?
Ich bin der Senf-Typ.
Mist, ich eher Ketchup. Na ja. Heute klappt halt auch nichts.
Ich glaube, eine Bratwurst mit diesem Brot und Ketchup ist auch das Schlechteste, was man auf einem ersten Date essen kann. Ich muss mich jetzt doch ein wenig aufregen. Alles geht schief. Da wird uns das falsche Spiel rausgesucht, es regnet, und dann ist alles schon vorbei, als wir ankommen. Nicht mal richtige Brötchen gibt’s, sondern nur noch ungetoastetes Toast …
Falls dich das aufmuntert: Ich war eh nicht so scharf auf Fußball-Gucken.
OK, dann machen wir das jetzt so, wie man das in Köln macht, wenn ein Spiel abgebrochen wird: Wir laufen von Späti zu Späti und trinken Bier. Die Gegend hier ist ja auch wunderschön. Hier ist zum Beispiel ein Swingerclub.
Man versprach mir Frauenfußball, stattdessen bekam ich “Kino Hole”.
Um das Bild zu vervollständigen, führe ich dich jetzt auf die sterbende Partymeile von Köln, die Zülpicher Straße. Hier hat schon jeder 16-jährige Kölner mal gekotzt.
Wann hast du das letzte mal gekotzt?
Das ist gar nicht so lang her. Ich hatte vor kurzem einen Magen-Darm-Infekt.
Na toll. Und ich habe vorhin aus deiner Flasche getrunken. Wie sieht’s mit Herpes aus?
Ich bin immun gegen Herpes. Mein Mitbewohner hat immer Herpes und ich krieg’s nie. Wann hast du das letzte Mal gekotzt? Vor ein paar Stunden?
Hätte durchaus passieren können, aber ich glaube, dein Radler hat echt mein Leben gerettet.
Hattest du früher als Teenager mal so ‘ne Todesfaszination?
Ja, total. Ich war ein sehr düsterer Teenager, der die ganze Zeit Nirvana gehört hat.
Ich auch.
Bist du also auch der Auffassung “Schlecht für das Herz, gut für die Kunst”?
Nicht unbedingt. Also es ist schon so, dass man großen kreativen Drang verspürt, wenn man in einem inneren Konflikt ist oder es einem nicht so gut geht. Ich habe aber auch schon Lieder geschrieben, die sehr traurig sind, obwohl es mir zu dem Zeitpunkt sehr gut ging, “Hinter klugen Sätzen” zum Beispiel im Urlaub. Ich verwerte in dem Song zwar Dinge aus einer Zeit, als es mir sehr schlecht ging, aber während ich ihn schrieb, war ich sehr glücklich und zufrieden. Bei “Marie” war ich auch total verliebt.
Das hört man.
Ja? Mir wurde schon gesagt, dass “Marie” das traurigste Lied überhaupt ist. Wenn ich mich verliebe, habe ich immer das Bedürfnis, die zentralen … weißt du … Ach, keine Ahnung.
Kennst du das: Man verliebt sich, man hat vier, fünf Wochen was miteinander und dann merkt man: Wir haben über ganz wichtige Themen noch gar nicht gesprochen? Und du hast irgendwie voll Bock, das alles zu erzählen – die großen, wichtigen Sachen, die dir passiert sind. Das ist für mich das Gefühl in dem Lied. Deswegen habe ich das für sie geschrieben.
Ich kann mir fast nichts Romantischeres vorstellen, als ein Lied für jemanden zu schreiben.
Eigentlich ist jeder Song auf unserem Album für jemanden geschrieben. “Hinter klugen Sätzen” ist zum Beispiel für mich selbst. “Alle Fragen” für jemanden aus Maltes Leben, “Schlagschatten” ist für meinen Vater. Ich mag es, wenn man ein Lied für jemanden schreibt und man ganz genau weiß, nur die Person erkennt die wahre Bedeutung hinter einer bestimmten Zeile oder einem Bild.
Ihr seid auf dem Album auch so politisch wie noch nie.
Wir hatten schon immer eine politische Haltung. Nur haben wir sie in der Musik nicht thematisiert, weil wir damals der Meinung waren, dass wir dafür zu jung und zu unwissend seien und lieber Liebeslieder singen sollten. Woraufhin uns vorgeworfen wurde, dass wir unpolitisch sind.
Dann könnte euch bei “Weiße Wand” jetzt wiederum vorgeworfen werden, ihr würdet nur wegen dieses Vorwurfs politische Musik machen.
Das hasse ich! “Habt ihr jetzt nur deswegen politische Lieder gemacht?” Erstens, das sind keine politischen Lieder. Das sind Lieder, die sich mit politischen Zusammenhängen auseinandersetzen. Wir machen ja keinen Agit-Pop, so Richtung: “Auf die Mauern für die Solidarität der Völker!” Wir zeigen eher mit dem Finger auf uns selbst und setzen uns damit auseinander, was in uns vorgeht.
Kluge, politische Musik zu machen, ohne cringy zu werden, ist auch nicht einfach.
Ich find es auch total langweilig, zu sagen: “Scheiß AfD, wählt die nicht. Seht ihr, ich bin einer von den Guten!” Natürlich kritisiere ich niemanden, der das sagt, aber ich persönlich finde es sinnvoller, Sachen zu sagen wie: “Ich bin für die Seenotrettung.” Oder für eine Frauenquote bei Rock am Ring. Oder ich setze ein Zeichen gegen Homophobie und lecke mit meinem Bassisten auf der Bühne rum.
“Rumlecken” übrigens, richtig schlimmes Wort.
Aber das muss man wirklich so nennen. Es ist super schwierig, einen guten Freund auf der Bühne zu küssen, wenn beide angesoffen sind und vor dir 50.000 Leute stehen und das nicht in Rumlecken ausarten zu lassen. Aber es war wirklich ein sehr guter Kuss. Was hältst du von Küssen beim ersten Date?
Kann man machen, wenn der Typ cool ist. Du?
Ich bin sogar für Küssen vorm ersten Date! Ich glaube, die zwei wichtigsten Parameter, ob es mit einem Menschen klappt, sind küssen und riechen. Wenn da was nicht passt … Schwierig.
Der Geruchssinn ist auch der erste, den man als Baby entwickelt.
Ist das so? Krass.
Wir sind genug im Regen rumgelaufen. Nachdem Hennings bevorzugte Kneipe natürlich geschlossen ist, müssen wir uns erneut mit dem, was uns Fortuna vor die Füße spuckt, zufriedengeben und kehren in eine Fußballkneipe ein. Da gibt es Kölsch und eine Toilette. Manchmal braucht es nicht viel, um glücklich zu sein.
Was hältst du so von Babys? Ist ja auch ganz gut zu wissen, bei einem ersten Date.
Ich liebe Babys. Mein Opa hat Schäferhunde gezüchtet. Ich bin da hingefahren und da waren immer 20 Hundewelpen.
Oh. Mein. Gott!
Hundewelpen und Kinder heilen die Seele. Viele in meinem Bekanntenkreis haben inzwischen auch Kinder. Ich hab sogar eine Zeichnung dabei, die mir mein Quasi-Patenkind gemalt hat.
Haha, das Kakadil!
Das ist auch erstaunlich weit gedacht für einen Fünfjährigen, das Wortspiel von Kaka und Krokodil. Ich habe ja das Gefühl, meine Seele wurde mal zerrissen und der eine Teil ist 16 und der andere 39. Deswegen ist das total schön, mit so einem kleinen Ding abzuhängen und Quatsch zu machen. Und plötzlich sagen die dann was total Kluges. Die Tochter von einem Freund hat letztens gesagt: “Ich weiß nicht, was ich will, aber WILL es so sehr!” Jeder hat sich so schon mal gefühlt, aber niemand sagt das so.
Warst du eigentlich schon mal hier?
Ja. Damals hat ein guter Freund versucht, alle Aschenbecher zu klauen. Einer von den Jungs hier hat das mitbekommen und uns voll angeschissen.
Habt ihr aufs Maul gekriegt?
Nein. Aber ich bin tatsächlich danach in eine Bar gegenüber gegangen, die gibt’s inzwischen gar nicht mehr. Dort hab ich versucht, einen Cocktailshaker zu klauen. Auf dem waren meine Initialen eingraviert, deswegen wollte ich den unbedingt. Das hat der Kellner dort aber auch gesehen und ist mir nachgerannt bis zum Neumarkt. Das sind von hier gerannt 15 Minuten!
Ihr seid keine besonders guten Diebe …
Na doch, ich hab den ja bis heute noch! Ich hab es nämlich geschafft, den Shaker so über einen Zaun in einen Hinterhof zu werfen, dass der Typ mich aus den Augen verloren hat. Er musste ja gucken, wie er jetzt den Shaker da rausholt. Was ihm wohl zu aufwendig war, so dass er wieder abgehauen ist. Ich konnte dann über den Zaun klettern und den Shaker holen. Währenddessen haben meine Freunde die Bar leer gesoffen – schließlich ist der Barkeeper ja einfach aus der Bar raus und mir hinterher gerannt. Wir haben uns wie ziemliche Gangster gefühlt.
Eine wunderbare Strolchen-Geschichte über Freundschaft, Mut und die Tücken von Alkohol.
Wir haben auch mal Tim Bendzko bestohlen.
Na bitte, das sind doch mal richtige Date-Geschichten!
Ich darf das eigentlich nicht erzählen, aber ich sag mal so: Er hatte etwas und wir brauchten es unbedingt und das war auch ziemlich teuer. Wollen wir noch ‘ne Runde bestellen?
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