Dieser Text erschien zuerst in der ‘The Hello Switzerland Issue’ – dem ersten VICE-Magazin, das vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Schweizer Redaktion entstanden ist.
Irgendwo in der aargauischen Provinz befindet sich ein unscheinbares Reihenhaus: Der “Zwüschehalt” – das sind vier Stockwerke, fünf geräumige Schlafzimmer, ein Garten mit einladendem Grillplatz sowie ein grosszügiges Badezimmer mit Jacuzzi und Sauna. Was nach dem wahrgewordenen gutbürgerlichen Familientraum klingt, ist ein Schutzraum für Männer, die von ihrer Partnerin physisch, psychisch oder sexuell misshandelt wurden oder die nach einer häuslichen Auseinandersetzung die gemeinsame Wohnung verlassen mussten.
Videos by VICE
Ich bin mit Hans Bänziger verabredet. Der pensionierte Sozialpädagoge leitet das Männerhaus, seitdem es sich 2014 als eigenständige Organisation aus dem Verein für elterliche Verantwortung (VEV) herausgebildet hat. “Der VEV, der sich für die Interessen getrennt lebender Väter einsetzt, hatte die Einrichtung 2009 als Selbsthilfe-Projekt ins Leben gerufen. Damals gab es keine Strukturen für Männer, die sich mit häuslicher Gewalt konfrontiert sahen”, so Bänziger. Heute bietet der Zwüschehalt zehn Wohnplätze für Männer und ihre Kinder.
Während es in der Schweiz 18 Frauenhäuser gibt, so ist der Zwüschehalt schweizweit der einzige Schutzraum für Männer. Das Angebot von Schutzräumen ist jedoch für beide Geschlechter knapp, da Frauen weitaus öfter Opfer häuslicher Gewalt werden. Im Gegensatz zu den meisten Frauenhäusern erhält das Männerhaus jedoch keine staatliche Unterstützung, weshalb es seinen Bewohnern eine Miete verrechnen muss und zusätzlich von Spenden abhängig ist.
Bänziger hat mich eingeladen, an der wöchentlichen Gesprächsrunde der Bewohner des Männerhauses teilzunehmen, um mehr über die tabuisierten Realitäten und traumatisierenden Schicksale der von Gewalt betroffenen Männer zu erfahren.
Patrick – Typ Altrocker, runzlige Stirn, rauchige Stimme – wohnt seit einem halben Jahr im Zwüschehalt. Nach einem Streit rammte ihm seine Ehefrau eine acht Zentimeter lange Klinge in den Rücken. Patrick verdankt sein Leben dem Zufall, die Klinge ist nur einen Zentimeter vor der Lunge und neben der Hauptschlagader stecken geblieben. Heute ist er wieder auf den Beinen – seiner Tätigkeit als Gipser geht er mit einem eingeschränkten Pensum seit einigen Monaten wieder nach. Die seelischen Verletzungen würden jedoch deutlich langsamer heilen, reflektiert Patrick. “Hier im Männerhaus habe ich den Raum, die Ruhe und die Zeit gefunden, mich wieder aufzubauen und zu mir selbst zu finden.” Der bald 60-Jährige konnte sich erst überhaupt nicht vorstellen, nochmals in einer WG zu leben. Der Kontakt mit Schicksalsgenossen würde ihm aber sehr gut tun. “Hier drin stosse ich auf das Verständnis, das ich ausserhalb dieser Gemeinschaft vermisse”, so Patrick.
Vom Angebot des Männerhauses erfuhr Patrick erst nach dem tätlichen Angriff seiner Ehefrau. Durch das Care Team des Kantonsspitals sei er auf diese Anlaufstelle aufmerksam gemacht worden. “In den meisten Köpfen existiert der Mann vor allem als Täter und weniger als Opfer häuslicher Gewalt”, erklärt Hausleiter Bänziger. Das Rollenbild des starken Mannes sei in der Bevölkerung über alle Gesellschaftsschichten hinweg weit verbreitet, so die Einschätzung des Sozialpädagogen. Männer hätten vielleicht gelernt, Schläge besser wegzustecken oder weniger darüber zu sprechen, aber innerlich seien sie genau gleich verletzlich wie Frauen. “In der Auseinandersetzung mit Gewalt geht es bei den meisten Männern am Anfang darum, sich die eigene Verletzlichkeit überhaupt erst einzugestehen”, sagt Bänziger.
Die Kriminalstatistik des Bundes zu häuslicher Gewalt verschafft einen Überblick darüber, wieviele Männer von Gewalt durch ihre Partnerin betroffen sind: Von den 6.457 Menschen, die 2015 einer Straftat der Kategorie Gewalt an Leib und Leben beschuldigt wurden, war knapp ein Viertel weiblich. Davon haben sich 1.108 mutmassliche Straftaten gegen den Partner gerichtet und 441 gegen Kinder oder andere Verwandte. Bei diesen Zahlen handelt es sich nicht um Verurteilungen, sondern um die Beschuldigungen aus Polizeirapporten. Trotzdem zeigen die Zahlen, dass häusliche Gewalt zwischen den Geschlechtern nicht ganz so einseitig angewendet wird, wie gemeinhin angenommen, da ein signifikanter Anteil der Opfer Männer sind.
“Meine Ex-Frau und ich haben uns gegenseitig geschlagen”, erklärt Toni. Der Mittvierziger gehört mit seinen aufmunternden Witzen und seinem ansteckenden Lachen praktisch zum Inventar des Männerhauses – er lebt schon seit zweieinhalb Jahren im Zwüschehalt. In dieser Zeit hat er viele Männer kommen und gehen sehen. “Weil alle hier drin dasselbe Problem haben, können wir untereinander sehr offen reden.” Jeden Donnerstagabend treffen sich die Bewohner des Hauses zu einem gemeinsamen Abendessen mit anschliessender Gesprächsrunde.
Tagsüber leben die Männer eher unabhängig voneinander: Die meisten gehen arbeiten, andere sind in therapeutischer Behandlung oder beziehen Sozialhilfe. In der Freizeit erledigen die Männer Hausarbeiten, schauen fern, oder spielen mit ihren Kindern, die manchmal zu Besuch kommen. Obwohl das Männerhaus fünf bewilligte Schlafplätze für Kinder hat, wohnen die Kinder nur in den wenigsten Fällen mit ihren Vätern im Zwüschehalt. “Die Behörden erteilen in einer Beziehungskrise nur selten dem Vater das Sorgerecht für die Kinder”, erklärt Bänziger.
“Weil die meisten Männer alleine kommen, ist das Zusammenleben hier sehr familiär”, sagt Toni. Klar gebe es manchmal auch Zoff, aber Konfrontationen würden immer friedlich geregelt. “Wer weiss, was ohne dieses Haus aus mir geworden wäre?”, fragt Toni rhetorisch. Die Antwort liefert er gleich selbst: “Sicher nichts Gutes!” Toni ist froh, dass die Scheidung und der damit einhergehende Behördenstreit bereits hinter ihm liegen. “Ich bin jetzt Gott sei Dank durch”, resümiert er.
Ben hingegen steckt noch mittendrin – er ist der Neue im Männerhaus. “Eines Tages kam ich von der Arbeit nach Hause und stand vor einer verriegelten Tür”, erzählt der gebürtige Österreicher während er sich eine Träne aus dem Auge wischt. Er habe sich oft mit seiner Frau gestritten, meistens sei es um Geld gegangen: “Ich habe zeitweise sieben Tage die Woche gearbeitet. Trotzdem war es meiner Frau nie genug.” Das habe ihn zwar zur Weissglut getrieben, aber geschlagen habe er seine Frau und seine Kinder nie, versichert der Familienvater. Trotzdem habe seine Frau Angst davor gehabt, von ihm geschlagen zu werden, und deswegen die Polizei gerufen, nachdem sie ihn ausgesperrt hatte.
Ben wurde in der Folge für zehn Tage aus der Wohnung verwiesen. “Ich durfte mich meinen eigenen Kindern bis auf 100 Meter nicht nähern. Könnt ihr euch das vorstellen?” Ein verständnisvolles Kopfnicken geht durch die Runde. Da Ben kein Geld für ein Hotel hatte, schlief er mitten im Winter in seinem Auto. Immer an verschiedenen Standorten, damit das niemandem auffiel. Der Gedanke, bald wieder mit seinen Kindern vereint zu sein, habe ihn in der Kälte warm gehalten. Doch noch bevor die zehn Tage abgelaufen waren, erhielt Ben Post vom Anwalt seiner Frau: Eine einstweilige Verfügung verlängerte die Frist bis auf Weiteres. “Ich weiss nicht, wie es weitergehen soll, vorerst bleibe ich wohl hier”, resümiert Ben. Er verstehe beim besten Willen nicht, wie ihn die Behörden von seinen Kindern vertreiben konnten, ohne seine Version der Geschichte anzuhören.
“Es kommt relativ oft vor, dass die erste Verfügung aufgrund von Aussagen der Frau veranlasst wird und die Anhörung des Mannes erst später erfolgt”, erklärt Bänziger. Ob es im umgekehrten Fall nicht genauso sei, möchte ich von der Runde wissen. Patrick lässt nicht lange auf seine Antwort warten: “Während ich im Spital noch verarztet wurde, ist meine Frau einen halben Tag nach dem Messerangriff bereits wieder in meiner Eigentumswohnung umher gestiefelt, wo sie auch heute noch wohnt! Weil sie sich kooperativ zeigte, war für die Behörden alles in Ordnung. Niemand fragte sich, wo ich bin. Ich hätte genauso gut auch unter einer Brücke pennen können. Dabei steckt meine ganze Pensionskasse in dieser Wohnung. Ich konnte bloss meine Gitarre und ein paar Kleider mitnehmen.”
An dieser Stelle mischt sich Ilir, ein Mitte 50-jähriger Albaner, ins Gespräch ein. “Sie hat dich angegriffen und war nach einem Tag wieder in der Wohnung? Ich war zweieinhalb Monate in Untersuchungshaft, nachdem ich meine Frau zusammengeschlagen habe”, stellt Ilir verwundert fest. Anders als die anderen Männer, ist Ilir als einseitiger Gewalttäter hier. “Das Männerhaus wurde ursprünglich für Gewaltopfer eröffnet. Seit zwei Jahren nehmen wir aber auch Männer auf, die ihr Haus verlassen mussten, nachdem sie Gewalt ausgeübt hatten”, erklärt Bänziger. “Auch diese Männer können nach einer Krise in einer hilfsbedürftigen Situation stecken.”
Obwohl Ilir gerne im Männerhaus wohnt, hofft er, bald wieder nach Hause zurückzukehren und sich mit seiner Frau versöhnen zu können. “Mein Psychologe meint, ich hätte sehr gute Fortschritte gemacht”, zeigt sich Ilir zuversichtlich. Er habe seine Fehler eingesehen, so Ilirs Selbsteinschätzung. “Wenn du zweieinhalb Monate nur eine Betonwand anschaust, hast du Zeit, nachzudenken.”
Auf ein Wiedersehen mit seiner Frau lieber verzichten möchte Stanley. Der Amerikaner ist ebenfalls erst seit Kurzem im Haus. Er sieht von allen Männern mit Abstand am fertigsten aus – in seiner wachsigen Haut lässt sich ein leichter Grünstich erkennen. “Ich bin hier, weil mich meine Ehefrau verfolgt”, erklärt Stanley. Nach ihrer Krebsdiagnose sei es mit der Ehe bergab gegangen. “Irgendwann konnte ich nicht mehr, ich war mit meinen Nerven am Ende und habe die Scheidung eingereicht”, bedauert Stanley sein eigenes Verhalten. Eigentlich sei schon alles für ihren Umzug in die Staaten vorbereitet gewesen, doch als sie von der Scheidung erfuhr, sei sie komplett durchgedreht. “Sie hat mir regelmässig auf der Arbeit aufgelauert, die Situation ist eskaliert.” Der Amerikaner ist froh, im Männerhaus erst einmal zur Ruhe kommen und Distanz zur Situation gewinnen zu können. Er sei sehr überrascht, wie schnell und einfach das Sozialsystem in der Schweiz funktioniere. In den Staaten würden Männer in seiner Situation sich selbst überlassen.
So unterschiedlich die jeweiligen Geschichten der fünf Männer auch sind, so haben sie trotzdem einen Punkt gemeinsam: Alle Männer waren mit ihrer Partnerin in einen Streit involviert und sahen sich in der Folge gezwungen, das Feld zu räumen und die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Die meisten von ihnen finanzieren neben den rund 1.000 Franken, die sie für den Aufenthalt im Männerhaus monatlich zahlen müssen, die alte Wohnung weiter. “Da es als Zulassungskriterium einen Polizeirapport braucht, erhalten nur rund zehn Prozent der Männer hier Opferhilfe”, erklärt Bänziger die Ursache für den finanziellen Engpass, in dem sich viele seiner Männer befinden.
Dieser Text soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Gewalttaten von Männern ausgeübt werden und die Versorgungsstruktur für von Gewalt betroffenen Frauen ebenfalls unzureichend ausgebaut ist. Aber wie die Kriminalstatistik des Bundes zeigt, gibt es eben auch viele Männer, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Im Zwüschehalt finden sie das Verständnis, das ihnen in weiten Teilen der Gesellschaft aufgrund eines falschen Rollenbildes verwehrt bleibt. Bänziger rechnet wegen des gesellschaftlichen Stigmas zudem mit einer sehr grossen Dunkelziffer. Und so ist es umso erstaunlicher, dass es in der Schweiz bloss ein Haus gibt, das von Gewalt betroffenen Männern Schutz bietet. Deswegen ist Bänziger von der Dringlichkeit seiner Arbeit überzeugt: “Wir arbeiten momentan an der Eröffnung weiterer Einrichtungen in Bern und Luzern, welche diesen Sommer bereits stattfinden soll.”