„Eine Frau hinterm Pult ist immer noch was Besonderes“— Sick Girls im Interview

Alexandra und Johanna. Was sind das doch für schöne Namen zweier musik-besessener Damen aus Berlin. Damit jetzt aber keine falsche Romantik aufkommt, haben sich Alex und Johanna schlichtweg Sick Girls genannt und seit 2004 bringen sie als Tag Team Abwechslung in die Techno-dominierte Szene der Hauptstadt.  

Beide sind tief verzahnt mit der elektronischen Entwicklung, waren sie doch als Bookerin – Alexandra im Tresor, Johanna im damaligen WMF – ab Ende der 90er-Jahre aktiv und kennen das Geschäft von der Pike auf. 2004 gründen sie das DJ-Duo Sick Girls – in einer Zeit also, als Minimal noch volles Rohr aus den Boxen dudelte und die Partys dann doch irgendwie immer die gleichen waren. Was sie damals und heute umhaute, waren jedoch nicht die ewiggleichen Loops, sondern die aggressiven Bässe, die auf der grünen Insel immer beliebter wurden. Stichwort: Grime. Mit den damaligen Grimetime-Partys im WMF gab es eine erste Plattform, die die Sick Girls mit ihrer eigenen Reihe Revolution N°5 fortführten.

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Zwei Frauen spielen also HipHop, Dubstep, Ghettotech, Garage, Jungle, Juke, Trap und Breakbeats – ob das wirklich so problemlos funktioniert, gerade wenn wir an die von Männern dominierte Szene (Brostep) denken? Spannend sind die Sick Girls allemal. Im Zuge des Heineken Open Your City Events in Berlin, auf dem die Sick Girls gemeinsam mit dem Franzosen Gesaffelstein und dem New Yorker Zebra Katz heute zu sehen sein werden, haben wir uns mit den beiden Berliner Damen über Chauvinismus in der Branche, den Mythos Berlin und der (möglichen) Existenz neuer Jugendkulturen unterhalten.

Euch braucht man ja nicht zu sagen, dass Berlin zumeist mit Techno gleichgesetzt wird. Als DJ-Duo Sick Girls geht ihr aber ganz bewusst in eine andere Richtung. Warum? Oder anders gefragt, was war größer: die Passion für Bass oder der Verdruss über (die Stagnation von) Techno?
Johanna: Das eine bedingte sicher das andere. Als wir 2004 angefangen haben, war es Zeit für eine neue musikalische Revolution und als die kam, war die Euphorie für den Bass ziemlich gigantisch.
Alexandra: Und das was wir machen, ist für mich auch kein Gegensatz zum Techno. Es gibt aber Techno-Stile wie ganz Minimales oder alles, was irgendwie ernsthaft trancig ist, die ich ganz schrecklich finde. 2004 war gerade tote Hose im Techno und als mir dann plötzlich ein Freund Grime vorgespielt hat – selbst bei der Erinnerung bekomme ich heute noch Gänsehaut – hab ich wieder diese Energie gespürt. Ich brauche auch immer diese körperliche Reaktion bei Musik.

Gibt es denn aktuell etwas Interessantes für Euch im Techno-Bereich?
Alexandra: Super interessante Neuentwicklung sind Positive Center und Ketev, das ist zwar experimenteller und beide spielen mit so circa 110 BPM, aber das finde ich gerade ganz toll. Denn da gibt es wieder tolle Verbindungen zu Dubstep, zumindest was den Bass angeht.

Schau ich mir Euren Start 2004 an, dann schwingt da unterschwellig so eine Art Portion Riot-Grrl- und Punk-Attitüde mit – ist da was dran?
Alexandra: Geplant war da übrigens überhaupt nichts, wir kannten uns auch eigentlich nicht richtig. Wir wollten auch keine große Revolution gegen den Techno anzetteln, wir hatten keine Strategie.
Johanna: Ich würde statt Rrriot Grrl lieber Feminismus sagen, das ist universeller und nicht so festgefahren. Ich habe zum Beispiel nie Sleater Kinney gehört, Punk aber auf jeden Fall. Ohne punk, no fun.
Alexandra: Ist wirklich schwierig zu sagen mit dem Punk, ich war tatsächlich mal Punk in einer Mini-Kleinstadt, aber gefühlt zehn Jahre zu spät und natürlich mit beschissenen Haaren (lacht). Wir kommen beide aus dem Techno, wo ja alles super gemixt sein muss, wir sind beide Bookerin und natürlich selber total kritisch. Und dann kommen wir da jetzt, können eigentlich nichts, außer tolle Musik spielen, wie machen wir das jetzt und haben gesagt und diskutiert, können wir uns als zwei Frauen dort überhaupt hinstellen und einen fiesen, sexistischen Dancehall-Track spielen?

Ihr werdet doch sicherlich manchmal komisch angeguckt bei dieser Männer-dominierten Szene, stört Euch das oder wie geht Ihr damit um? Und hat sich das mit den Jahren vielleicht sogar verändert?
Johanna: Oh, wir werden immer wieder komisch angeguckt, haben immer wieder Problem mit Tontechnikern oder andern Menschen, die Frauen für Techniktrottel halten und unsere Kabel für uns stöpseln wollen. Aber es gibt auch subtilere Mysogynie – zum Beispiel Abende mit nur weiblichen DJs oder Online-Kommentare auf Sets beim Boiler Room. Ich glaube, das ist aber nicht genrebedingt, sondern übergreifend, die gesamte Musikszene ist komplett Männer-dominiert und wenn man nicht singt oder Geige spielt, ist eine Frau hinterm Pult immer noch was besonderes.
Alexandra: Wir sind als Gesellschaft einfach noch nicht so weit. Intellektuell eigentlich schon, aber so lange ich beim Spielen von Games auf dem iPhone, mit einer Pokerwerbung konfrontiert werde, die mit als erstes eine Bikini-Frau präsentiert, sind wir eben noch nicht so weit. Ich finde es aber sehr wichtig, dass man auf Sexismus hinweist, zum Beispiel, wenn wir irgendwo gebucht werden und der Flyer sexistisch ist, das auch anzusprechen etc. Ich will das Thema von mehr Frauen in der DJ-Szene natürlich vorwärts treiben, aber nicht durch eine falsche Aggressivität oder durch bescheuerte Abgrenzung, ich will das schön 50/50, und dass das alles Hand in Hand geht.

Wir stehst du dann zur Frauenquote oder ist das eher eine lästige Debatte für dich?
Alexandra: Zum jetzigen Zeitpunkt bin ich dafür, es soll aber natürlich dahin kommen, dass du solch einen Scheiß gar nicht mehr brauchst. Das ist ja das Ziel, dass wir diese Diskussion nicht mehr brauchen, ob zum Beispiel ein Gutmensch ein schlechtes Wort ist.

In den 90er-Jahren wart ihr die Bookerinnen in zwei der wichtigsten Clubs damals: Alex für den Tresor, du für das WMF – seid Ihr mit dem aktuellen Booking in den Clubs der Hauptstadt zufrieden oder wo gibt es Verbesserungsbedarf?
Alexandra: (überlegt lange) Also, ich find es eh immer spannend, aber es gibt ja so verschiedene Strategien, je nach dem wie viel Kohle du hast. Es gibt einerseits die Strategie der großen Namen, dann die der vielen Namen und die Strategie: Scheiß egal was läuft, Hauptsache die Party ist geil und alle sind breit. So als grobe Unterteilung. Große Namen hast du etwa im Berghain und für Bass Musik im Gretchen. Und die breiten Partys sind im Kater Holzig oder Sisyphos, was ja nicht schlecht sein muss, weil man dort einfach feiert und nicht so verkopft herangeht. Wenn wir könnten oder gekonnt hätten, wie wir wollten, hätte ich am Liebsten eine Mischung aus Revolution Nr. 5, CTM und Atonal – alles an einem Abend. Wo es wirklich so ist, dass du in einem Raum mit den Händen in der Luftt stehst und kreischst, und im nächsten Floor auf dem Boden sitzt und jemand bei 64 BPM experimentellen Sound spielt und du bedächtig zuhörst.
Johanna: Ganz ehrlich: der einzige Club, den ich gerade gerne mag, ist das OHM – alles andere ist verbesserungswürdig.

Na dann mal raus mit der Nostalgie-Keule: Warum war WMF der beste Club aller Zeiten?
Johanna: Das WMF war seiner Zeit voraus – mit allem: musikalischer Innovation, Anbindung an Visuals, Lichtkonzepte, Design etc. Es hatte die ersten Drum’n’Bass-Partys in Deutschland, den ersten Gig von Fisherspooner, den ersten Club, dessen Wände komplett aus Projektionsflächen bestanden haben, den ersten Clubraum, der öffentlich und privat verbunden hat mit dem fensterlosen Sommerlager. Vor allem war es aber eine Family von musikbegeisterten Leuten, die alle an das gemeinsame Projekt geglaubt haben, damit kaum Geld verdient haben und lieber nach dem nächsten musikalischen Experiment gegraben haben, als auf Nummer sicher zu gehen und Clubkultur als politisches Instrument verstanden haben. Und die vielen Stammgäste haben zur Family gehört. Rie runden Hemingway, die dort ausgegeben wurden, gingen sicher an einigen Abenden ins Dreistellige. Man hat sich dort immer zu Hause gefühlt.

Ihr habt aber trotzdem Eure eigenen Partys gegründet – warum?
Johanna: Wir wollten die Lücke schließen, die sich in Berlin aufgetan hat, keiner hat das gemacht, was wir damals gemacht haben, es gab keine Bass-Musik-Partys. Wir wollten aber auf welche gehen und dazu tanzen also haben wir Revolution No. 5 ins Leben gerufen.
Alexandra: Grime Time waren ja wirklich die allerersten, das waren Sasha Perera von Jahcoozi, Gerrit Schulz vom WMF und Christian Fussenegger, die haben zusammen die ersten Grime Time-Party 2004 im WMF gemacht, das lief ein paar Jahre. Wir haben dann unsere erste Revolution No. 5 ein bisschen später gemacht. Wir haben aber nicht nur Grime gespielt, sondern mehr Stilarten zusammen geschmissen. Durch Zufall haben wir übrigens vor kurzem im Cassipoeia wieder neugestartet mit Grime Time Revisited: Da hast du ein gutes Publikum, HipHop-Jungs, ein paar Touristen, Studenten, 40-jährige Engländer – eine geile Mischung, die einfach auf die Musik steht.

Für die nicht so aufgeklärten Gemüter: Worin liegt den der Unterschied zwischen Trap, Ghettotech und Grime?
Alexandra: Ghettotech kommt vom House und vom Techno, also vor allem aus Chicago und Detroit. Viele Ghetto-Musiken wie z.B. Baile Funk, beruhen auf diesen beiden Strömungen. Aus Ghettohouse hat sich zB. Footwork entwickelt. Trap ist im Grunde eine Vermengung von Gangster-HipHop mit elektronischer Musik – das was wir früher Dirty-South oder Crunk genannt haben, wurde dann über den Umweg Trap vom EDM eingemeindet und ist nicht mehr so empfehlenswert. Grime ist wiederum die britisch-europäische Auslegung oder Transformation von HipHop und Dancehall, in England hast du ja eine starke jamaikanische Diaspora, da liegen die Wurzeln traditionell im Reggae.

Gab es in Euren Augen nach der elektronischen Jugendkultur noch etwas danach; oder sehr Ihr vielleicht eine neue kommen?
Alexandra: Da gab es gerade im letzten Jahr eine tolle Diskussion darüber auf dem CTM Festival mit Kode9 oder Lee Gamble. Da ging es um den „Death of Rave” und die Theorie, dass wir immer noch im gleichen Zyklus sind, also dass wir uns seit 1991 noch immer im gleichen Prozess befinden: Wir gehen aus, Clubbing zur elektronischen Musik, wir bewegen uns, nehmen irgendwas, trinken irgendwas, alles ist gleich geblieben. Was im Grunde auch stimmt, wenn du dir die Struktur und das Konzept des Clubbings anguckst, hat sich nicht viel verändert. Jeder, der neu nach Berlin kommt, hat den Berlin-Mythos der 90er-Jahre im Kopf und will den auch wiederhaben, d.h. wir reproduzieren alle immer wieder unseren eigenen Mythos, weil wir den so geil finden oder verpasst haben und wiedererleben wollen. Der Rave ist also nicht gestorben, sondern ein Zombie.

Gibt es denn nichts Neues?
Alexandra: Die Frage ist immer auch eine Technikfrage, also die neuer Produktionsmethoden. Auch wenn wir jetzt aktuell fast ausschließlich digital produzieren, befinden wir uns, was die Musikproduktion, den Aufbau von Patterns und Loops angeht, noch in der gleichen Phase. Ob ich nun in den 90ern dort gesessen habe, und nur 3 Sekunden von meinem Beat aufnehmen konnte und jetzt alles in Ableton mache, der Beat ist der gleiche. Eine wirkliche Revolution fängt meistens mit einem anderen Beat oder einer neuen Produktionsform an, das hast du gerade noch nicht, und wenn dann ist das noch sehr nerdig.

Die Sick Girls spielen heute in Berlin auf der Heineken Open Your City Party, präsentiert von THUMP. Mehr Infos gibt es hier.

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