Wenn ihr oder jemand in eurem Umfeld Hilfe braucht, nehmt sie in Anspruch.
Vor 10 Jahren wurde “Komasaufen” zum Unwort des Jahres gewählt. Der Begriff war auch damals schon nur bedingt richtig – ins Koma gesoffen haben sich die wenigsten. Aber Alkoholvergiftungen waren bei vielen fester Bestandteil eines lustigen Wochenendes.
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Medien waren voll mit Geschichten über Jugendliche, die sich vielleicht meistens nicht ins Koma, aber bis kurz davor gesoffen hatten – zumindest bis zum zweiten der vier Stadien von Alkoholvergiftung. Dieses definiert sich dadurch, dass es bei Betroffenen zu Sprach-, Artikulations- und Koordinationsstörungen, Blackouts und Erbrechen kommt. Einige Forscher prognostizierten durch den exzessiven Alkoholkonsum der Jugendlichen eine steigende Zahl an Demenzerkrankungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten.
Komasaufen wurde zum neuen Volkssport unter Jugendlichen erklärt. Die Politik müsse dringend etwas tun, hieß es.
Die EU-Kommission prüfte eine europaweite Einführung von zusätzlichen Etiketten auf Flaschen. Die österreichische Regierung überlegte einen eigenen Personalausweis für Jugendliche einzuführen, der eine andere Farbe haben sollte, damit Kellner schneller erkennen könnten, ob der Besitzer bereits Alkohol trinken dürfe. Die Umstellung wurde als zu teuer befunden und nicht umgesetzt. Die FPÖ kritisierte Partys, auf denen es Alkohol extrem günstig zu kaufen gab – gleichzeitig feierte der damalige FPÖ-Chef Jörg Haider selbst auf derartigen Veranstaltungen und lud die Gäste auf Getränke ein.
“Wie gefährlich ist die Lage?”, fragte damals die Zeit. “Nur wer kotzt, trinkt am Limit”, zitierte die Frankfurter Allgemeine. “Immer mehr Partynächte, bevorzugt an den Wochenenden, enden für Kinder und Jugendliche auf der Intensivstation”, schrieb die Kronen Zeitung. Komasaufen war überall und es schien das Problem einer ganzen Generation zu sein.
Irgendwas musste Mitte der 2000er mit den Jugendlichen passiert sein und jeder hatte eine Erklärung: Zerrüttete Elternhäuser, desinteressierte Lehrer, profitorientierte Wirte, die Jugendlichen selbst, andere Jugendliche, die Exekutive, das Fernsehen, die Medien, unsere Schnelllebigkeit, Österreichs/Deutschlands/Großbritanniens Trinkkultur. Expertenrunden traten zusammen und erklärten, was zu tun sei: Schärfere Gesetze, Strafen für Wirte, Strafen für Jugendliche, Strafen für Eltern. Die Auseinandersetzung mit der Problematik war vieles, aber nüchtern war sie nur im selben Maß wie die Minderjährigen selbst.
Tatsächlich gab es in der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde Graz einen enormen Anstieg rauschbedingter Aufnahmen Minderjähriger (hier geht es nicht ausschließlich um Alkoholvergiftungen). Dort stiegen schon zwischen 1993 und 2000 die dokumentierten Fälle von 8 jährlich auf 154 Fälle. Das war ein Anstieg auf das 19-Fache. Danach blieben die Zahlen weitestgehend konstant. Bundesweit stiegen die dokumentierten Fälle zwischen 1993 und 2000 von 819 auf 1701. Bis 2007 waren es schließlich 2735 Fälle pro Jahr.
Was war da los, Mitte der 2000er? Und was wurde aus den Jugendlichen, die damals jedes Wochenende tranken, als gäbe es kein Morgen?
Die Frage ist eigentlich ganz einfach zu beantworten: Eine “Generation Komasaufen” gab es nie. Jugendliche trinken heute so wenig wie seit den 1970ern nicht mehr und auch Mitte der 2000er gab es keinen plötzlichen Anstieg. Die europaweite Statistik der Vieltrinker führen zwar immer noch die österreichischen Schülerinnen und Schüler an – zusammen mit Zypern und Dänemark –, aber auch hierzulande ist der durchschnittliche Alkoholkonsum seit 1970 um 20 Prozent zurückgegangen.
Der Suchtforscher Dr. Alfred Uhl erklärt in einer Studie zur medialen Berichterstattung über das “Phänomen Komasaufen”, dass der Anstieg der dokumentierten Fälle nicht bedeute, dass es auch tatsächlichen einen dramatischen Anstieg gegeben habe. Das habe unter anderem mit der Einführung der leistungsorientierten Krankenhausfinanzierung 1997 zu tun: Diagnosen sind seither nicht nur gesetzlich vorgeschrieben, sondern bringen auch Geld für die Krankenanstalten. Die dokumentierten Fälle stiegen im selben Zeitraum übrigens nicht nur bei Jugendlichen, sondern in allen Altersgruppen – fast alle Diagnosen nahmen deutlich zu.
Eigentlich ist es ganz einfach: Eine “Generation Komasaufen” gab es nie.
Im Wiener Suchtbehandlungszentrum Schweizer Haus Hadersdorf findet man keine Alkoholiker, die in den 2000ern Jugendliche waren. Das sei typisch, erklärt man mir. Alkoholiker würden meist viele Jahre trinken, bis sie tatsächlich Hilfe in Anspruch nehmen. Auch, weil die Sucht gesellschaftlich akzeptiert sei und der körperliche Verfall langsamer stattfinde als beim Konsum anderer Rauschmittel. Einen Anstieg an jüngeren Klienten gebe es im Zentrum nicht.
Auch Dr. Olaf Rossiwall, Facharzt für Psychiatrie und Obmann der Interessengemeinschaft Anonyme Alkoholiker, erklärt auf Anfrage per Mail, die Anonymen Alkoholiker würden in Österreich, “wie in vielen weiteren westlichen Ländern eher an Überalterung leiden”; was freilich nicht heißt, dass man sich mehr junge Betroffene wünsche, sondern nur, dass diese das Angebot weniger in Anspruch nehmen würden.
Herr Frank ist 56, seit einem halben Jahr in der Entzugsklinik in Hadersdorf und lacht, als ich ihn zur “Generation Komasaufen” befrage. Auch sie hätten bis zum Umfallen gesoffen, erzählt er, und zu Hause sogar eigene Bars gebaut sowie Betten hineingestellt für die, die zusammenbrachen. Wer nicht dabei war, war Außenseiter – also sei jeder dabei gewesen.
“Ich will Schnaps! Schnaps! Alles was ich will ist Schnaps, der weiß, wo die Sonne lebt.”
Mit 16 begann er zu trinken, völlig aufhören möchte er damit nie. Alleine zu Hause habe er es aber nie getan – immer nur mit Freunden. Mit 16 wie mit 56. Drei seiner Freunde von damals seien bereits an den Folgen des Alkohols gestorben. Selbst sein Vater, Jahrgang 1940, habe jeden Abend getrunken und sei mit seinen Arbeitskollegen auf dem Pferd zum nächsten Kirtag geritten, um sich Freitag bis Sonntag zu besaufen, ohne dazwischen nach Hause zu kommen. Eine Woche vor meinem Gespräch mit Herrn Frank verstarb sein Vater an Leberzirrhose.
“Ich merke selbst, wie mein Gedächtnis in den vergangenen Jahren schwächer wurde”, erklärt Herr Frank. Sie seien selbst eine Generation von Komasäufern gewesen, nur habe es damals noch keinen Begriff dafür gegeben. “Viele Jugendliche haben immer schon bei einer ihren ersten Alkoholerfahrungen Räusche erlebt und phasenhaft bei Festen zu viel getrunken”, sagt dazu der Suchtforscher Dr. Uhl.
“Unerwartet ist es in einer Kultur wie der österreichischen nicht, dass die Mehrzahl der 16-Jährigen bereits einmal Alkohol getrunken hat, sondern dass ein nicht unbedeutender Prozentsatz das noch nicht getan hat.”
Erste Erfahrungen mit Alkohol machen viele in Österreich früh: 88 Prozent der österreichischen Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 bis 16 Jahren gaben in einer 2016 veröffentlichten europaweiten Studie an, schon einmal Alkohol konsumiert zu haben. Im Durchschnitt hatten sie in den vergangenen 30 Tagen sieben Mal Alkohol getrunken (natürlich sind darunter auch Problemkonsumenten – der Großteil konsumiert aber relativ unbedenklich).
Das ist nicht verwunderlich. Alkohol spielt in Österreich eine große Rolle im sozialen Leben von Erwachsenen – und so natürlich auch beim Erwachsenwerden, wo man sich an älteren Mitmenschen orientiert. Kulturell verankerter Alkoholkonsum bringe es mit sich, “dass auch viele Kleinkinder schon früh einmal einen Schluck Bier oder Wein bei Erwachsenen kosten”, so Uhl.
Doch das einmalige Probieren sei für ihn eigentlich kein Alarmzeichen. Es zeige einfach, dass Kinder neugierig seien. Denn wenn man sie einmal probieren lasse, würden sie Alkohol in der Regel fürchterlich finden und hätten danach viele Jahre kein Interesse mehr an Alkohol. So wird er nicht unnötig zu etwas Faszinierendem aufgewertet, das Kinder unbedingt probieren möchten – und es dann oft heimlich und unkontrolliert auch tun. Nur, wenn es über das einmalige “Probierenlassen” deutlich hinausgehe, sei das bedenklich.
Relevanter Alkoholkonsum beginne erst ab 12 bis 14 – Jugendliche müssten in dieser Zeit lernen, wie man sich als Erwachsener verhalte. Und dazu gehöre aufgrund des kulturell eingebetteten Alkoholkonsums in Österreich eben auch der adäquate Umgang mit Alkohol, so der Suchtforscher.
Und kulturell eingebettet ist Alkoholkonsum in Österreich ganz bestimmt. Ein paar Beispiele:
“Wo man trinkt, da laß dich ruhig nieder,
denn der Alkohol veredelt das Gemüt,
bring dir Heiterkeit und kräftigt deine Glieder.”
– “Wo man trinkt, da laß Dich ruhig nieder!” von Carl Maria Haslbrunner, 1948
“A Krügerl, a Glaserl, a Stamperl, a Tröpferl
Da werd’n uns’re Äugerln gleich feucht
Da warmt si’ des Herzerl,
Da draht si mei Köpferl,
Die Fußerln wird’n luftig und leicht
Dann muaß i der Musi’ an Hunderter reib’n,
I bin in mein’ Himmel – und dann geh’ i speib’n”
– “Krügel vor’m Gsicht” von Helmut Qualtinger, 1962
“Heut sauf i mi an und rauch mi ein
lasst mi in Ruh, i find nix dabei.”
– “Heut sauf i mi an” von Reinhard Fendrich, 1980
“Ich will Schnaps!
Schnaps!
“Alles was ich will ist Schnaps, der weiß, wo die Sonne lebt.”
– “Schnaps” von Wanda, 2014
“Das letzte Bier sitzt tief in mir
Doch bereuen nicht mit mir.”
– “Spliff” von Bilderbuch, 2015
In einer Kultur wie der österreichischen sei es nicht ungewöhnlich, “dass die Mehrzahl der 16-Jährigen, die bereits Bier und Wein trinken dürfen, auch schon mindestens einmal Alkohol getrunken hat, sondern dass ein nicht unbedeutender Prozentsatz das noch nicht getan hat beziehungsweise nicht zugibt”, schreibt Suchtforscher Uhl in seiner Studie aus dem Jahr 2012.
Natürlich hat übermäßiger Alkoholkonsum auch negative Auswirkungen auf das Gehirn von Menschen – und wie prognostiziert stieg in den vergangenen Jahren auch die Zahl der an Demenz erkrankten Österreicherinnen und Österreicher. Doch Alkoholkonsum und damit verbundene Effekte und Erkrankungen sind nur in begrenztem Ausmaß der Grund für diese Entwicklung. Menschen werden heutzutage immer älter; und je älter ein Mensch wird, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken.
Das heißt nicht, dass man die Gefahren, die von Alkohol ausgehen, unterschätzen sollte. Geschätzte 370.000 Österreicherinnen und Österreicher sind alkoholkrank. Die Zahl derer, die in gesundheitsgefährdendem Maße Alkohol trinken, ist sogar noch weit höher. Das Problem des übermäßigen Alkoholkonsums betrifft dabei aber nicht hauptsächlich Jugendliche, sondern in einem weit höheren Maße Erwachsene. Und es war auch nicht nach den 00er-Jahren verschwunden, nur weil die Medien langsam aufhörten, so intensiv darüber zu berichten. Wie so oft lauern die echten Probleme nämlich dort, wo niemand hinschaut.