Ein Mann sitzt auf einer Veranda und starrt nachdenklich auf zwei kleine Objekte vor ihm
The Harris Lantern Slide Show © Anti-Slavery International/ Autograph ABP

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Fotos

Fotos, die den Schrecken des Kolonialismus im Kongo zeigen

Wie die Macht schockierender Bilder eine Kolonialherrschaft beenden konnten.

The Harris Lantern Slide Show © Anti-Slavery International/ Autograph ABP

1904 im Kongo, ein Mann sitzt auf einer Veranda und starrt nachdenklich auf zwei kleine Objekte vor ihm. Auf den ersten Blick ist nicht erkennbar, was ihn so beschäftigt. Wenn man aber genauer hinschaut, zeigt sich ein grausames Bild: Es sind der abgetrennte Fuß und die abgetrennte Hand eines Kindes.

Nsala, der Mann, den wir in dem Bild sehen, wurde von der englischen Missionarin Alice Seely Harris fotografiert, nachdem er bei ihrer Mission aufgetaucht war—sich an ein Päckchen klammernd, in dem sich die Überreste seiner fünf Jahre alten Tochter befanden. Als Strafe dafür, dass sein Dorf nicht die vom königlichen Regime geforderte Menge an Kautschuk produziert hatte, war seine Tochter getötet und zerstückelt worden.

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Harris hat hunderte solcher Bilder gemacht. Sie dokumentierte die Gewalt, die Versklavung und die Ausbeutung, die von den Gesandten des belgischen Königs Leopold II. am kongolesischen Volk verübt worden war. Von 1885 an nutzte Leopold den Kongo-Freistaat als persönliche Geldfabrik. Er bereicherte sich an Zwangsarbeit, während er nach außen hin vorgab, ein humanitäres Projekt durchzuführen. Die Bilder zwangen die Menschen in Europa, sich damit auseinanderzusetzen, was in Afrika vor sich ging. Durch den Druck der Öffentlichkeit sah sich Leopold schließlich gezwungen, den Kongo 1908 an den belgischen Staat zu verkaufen. Es sollte aber noch bis 1960 dauern, bis das Land wirklich unabhängig wurde.

Anlässlich einer laufenden Ausstellung im International Slavery Museum in Liverpool, bei der Seeley Harris' selten gezeigte Bilder zu sehen sind, habe ich mit dem Museumsdirektor Dr. Richard Benjamin gesprochen.

VICE: Alice Seeley Harris ist in ihren 20ern als Missionarin in den Kongo gereist und hat dann dort mit ihren Bildern die Schrecken des Kolonialismus dokumentiert. Weiß man etwas über ihre Motivation dahinter?
Dr. Richard Benjamin: Als Missionarin galt ihr Hauptaugenmerk natürlich anderen Dingen. Einige der Bilder sind auch in anderer Hinsicht sehr verstörend—zum Beispiel, wenn man sich anschaut, wie sie mit den kongolesischen Kindern posiert. Es ist sehr schwer, sich vorzustellen, was sie sich damals wohl dabei gedacht hat. Es ist schon eine interessante Gegenüberstellung: Die Kampagne war gut—ob man das aber auch von ihrer Arbeit dort behaupten kann, ist eher fraglich. Was waren ihre Beweggründe?

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Foto von Alice Seeley Harris. Copyright Anti-Slavery International and Autograph ABP.

Können sie uns etwas darüber sagen, wie die Bilder damals in Europa aufgenommen wurden?
Man sieht hier eine Kampagne, die man sich als Äquivalent zu einer heutigen PowerPoint-Präsentation vorstellen kann: Eine Diashow. Es gab buchstäblich hunderte Diskussionsrunden zu dem Thema in ganz Großbritannien—Liverpool, London, Glasgow, Birmingham—organisiert von der Congo Reform Association, einer frühen Menschenrechtsorganisation. Dazu gehörten auch Harris, ihr Mann und Menschen wie Edmund Dean Morel [ein Journalist und Aktivist].

Hat sich durch diese Kampagne viel geändert?
Sehr viel sogar. Selbst Menschen aus der Oberschicht fingen an, die Anliegen zu unterzeichnen und Geld zu geben. Man muss dabei bedenken, dass Leopold mit dem britischen Königshaus verwandt war. Egal, ob die britische Königsfamilie tatsächlich etwas damit zu tun hatte oder nicht, sie wäre damit in Verbindung gebracht worden. In der Öffentlichkeit herrschte eine relativ eindeutige Meinung.

Foto von Alice Seeley Harris. Copyright Anti-Slavery International and Autograph ABP.

Die Bilder sind recht brutal. Stört Sie das?
Als Sklavereimuseum haben wir eine Menge Bilder, die wirklich unter die Haut gehen—einige davon sind auch aktuell. Wir haben lange über dieses Thema nachgedacht. Man möchte nicht zu beliebig sein, aber es ist auch ein schmaler Grad. Man will den Menschen schließlich zeigen, was und wie etwas tatsächlich ist.

Ich habe vor Kurzem erst eine Präsentation der Wissenschaftlerin Petra Bopp gesehen. Sie zeigte ein Bild einer jungen Frau, die im Sonnenlicht durch einen Fluss watet—ein wirklich schönes Bild. Dr. Bopp hat Fotos untersucht, die von Wehrmachtsangehörigen während des zweiten Weltkrieges gemacht worden waren—also Bilder, die sie dann in ihren privaten Fotoalben aufbewahrten. Auf der Rückseite dieses Fotos steht das Wort „Minensuche" geschrieben. Dieses Mädchen war ein menschliches Minensuchgerät.

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Das war eins der schockierendsten Bilder, das ich in vielen Jahren gesehen habe. Auf dem Foto selber ist allerdings keinerlei Gewalt zu sehen. Es hat mich zum Nachdenken gebracht: Vermeintlich harmlose, gewaltlose Bilder können auch eine starke Wirkung haben. Wenn man sie entsprechend ausstellt, können sie auch sehr verstörend sein.

Arbeiter einer Kautschukplantage in Bongwonga. Foto von Alice Seeley Harris. Copyright Anti-Slavery International and Autograph ABP.

Die Kampagnenfotografie hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Es wird zunehmend Wert auf Positives gelegt—darauf, dass Menschen nicht nur als Opfer dargestellt werden. Gibt es da noch einen Platz für solche Bilder wie die von Harris?
Ich bin mir bewusst, dass die NGOs sich vom Bild des kleinen afrikanischen Kindes, das von Fliegen umgeben ist, verabschiedet haben. Ich selber bin mit diesen Fotos, die man auch von Band Aid kennt, aufgewachsen. Ich verstehe also, was die Menschen mit ihren modernen Kampagnen sagen wollen. Bekommt ein zehn- oder fünfzehnjähriger Jugendlicher bei den heutigen Kampagnen allerdings wirklich eine Vorstellung davon, wie schrecklich die Zustände eigentlich sind? Manchmal braucht es einfach einen Hammer und dann muss man auch hart zuschlagen.

Man braucht also beides?
Ja, man muss die Menschen ermächtigen. Im Museum gibt es auch den Teil der Ausstellung, der sich nur mit schwarzen Leistungsträgern auseinandersetzt. Diesen haben wir ganz bewusst dort platziert, damit die jungen Menschen, die hier wahrscheinlich zum ersten Mal von Großbritanniens oder Liverpools Rolle im Sklavenhandel erfahren, das Museum nicht mit der Vorstellung verlassen, dass die afrikanische Geschichte lediglich aus Sklaverei und Unterdrückung besteht. Man muss die Leute hart treffen, aber man muss dann auch sagen: Menschen können Sachen überstehen und dann noch Großes leisten. Afrika steht keineswegs still, es entwickelt sich nach vorne.

Lomboto wurde von dem Wachmann einer Kautschukplantage in Handgelenk und Hand geschossen. Ein Abzug aus dem frühen 20. Jahrhundert. Copyright Anti-Slavery International and Autograph ABP

Kongolesische Gruppierungen waren ebenfalls in diese Ausstellung involviert. Was ist deren Ansatz?
Vava Tampa, der Gründer von Save the Congo, war hier, um mit uns über seine Arbeit zu sprechen. Er plädierte dafür, den Kongo nicht nur mit negativen Bildern zu assoziieren. Außerdem war eine Angehörige der Congolese Association of Merseyside beteiligt, die eine andere Vorstellung von den Problemen im Kongo hatte. Als ich aufwuchs, wurde Mobutu Sese Seko gemeinhin als berüchtigter Diktator gesehen. Interessanterweise sieht sie ihn aber gar nicht so negativ, wie das der Westen tut. In der Ausstellung zeigen wir auch Patrice Lumumba als positives Vorbild für einen Freiheitskämpfer. Das ist ein Standpunkt, den wir hier vertreten, aber im Kongo selber würde bestimmt nicht jeder damit übereinstimmen.

Gibt es Bilder in der Ausstellung, die Ihnen besonders in Erinnerung bleiben werden?
Es gibt da dieses Foto, auf dem man einen Europäer sehen kann, der in einer Art Hängematte von zwei afrikanischen Männern getragen wird. Wir baten Petronelle Moanda, die Leiterin der Congolese Association of Merseyside, um ein Zitat dazu. Ihre Antwort war: „Es ist ein Segen, Kongolese zu sein, und niemand wird Kongolose durch Gewalt, Gier oder Macht!" Ich habe dieses aufmunternde Zitat dann ganz bewusst unter das Bild geschrieben: Es gibt wirklich schreckliche Aspekte in der kongolesischen Geschichte, aber dennoch hast du dort diese überaus stolzen und erfolgreichen Individuen.

Bis zum 7. Juni kann man sich noch im Liverpool International Museum of Slavery die Aussstelung Brutal Exposure anschauen.