“Einen Monat lang draußen in der eisigen Kälte zu leben und auf dem steinharten Boden zu schlafen, ist schlimmer als alles, was ich mir jemals vorstellen könnte”, sagt Hicham, 16, aus Guinea, während er an einem billigen Paar Fäustlinge nestelt. “Ich habe schon harte Zeiten durchgemacht, aber der Winter hier ist einfach nur brutal. Ich trage beim Schlafen alle meine Klamotten, damit ich nicht erfriere. Manchmal frage ich mich, wie lange ich das noch durchhalte.”
Ich lerne Hicham im November kennen – in seiner provisorischen Unterkunft in einer mit Graffitis vollgesprühten Unterführung in Porte Brunet, dem 19. Arrondissement im Nordosten von Paris. Dort leben zu diesem Zeitpunkt noch Dutzende weitere Minderjährige ohne Begleitung, die meisten stammen aus Afghanistan oder dem Afrika südlich der Sahara.
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Mitte Oktober suchten ungefähr 150 Menschen Unterschlupf in dem Tunnel, weil in den Notunterkünften nicht genügend Betten bereitstanden. Unter den Geflüchteten befanden sich 25 Familien. Zehn Kinder sind zwischen ein und dreizehn Jahre alt. Anwohnende und die französische Hilfsorganisation Utopia 56 versorgten die Gruppe mit Zelten, die seitdem ordentlich aufgereiht dicht aneinander im Tunnel stehen. Zu dieser Jahreszeit fallen die Temperaturen hier oft unter vier Grad Celsius und stellen damit eine ernstzunehmende Gesundheitsgefahr für die Geflüchteten dar.
In seinem abgewetzten Mantel und seiner Wintermütze erzählt mir Hicham, dass er am 20. Oktober in Frankreich angekommen sei. Bevor er es nach Paris schaffte, habe er eine monatelange Odyssee durchgemacht, die ihn von Conakry, der Hauptstadt Guineas, durch Mali und Niger nach Libyen brachte. Dort habe man ihn festgenommen, gefesselt und täglich zusammengeschlagen. Manchmal sei er auch an seinen Füßen aufgehängt worden. An seinem linken Bein zeigt er mir eine Narbe, die davon zurückgeblieben sei.

Zusammen mit zwei anderen Gefangenen habe er es 24 Tage nach seiner Festnahme geschafft, zu entkommen und in einem Boot auf die italienische Insel Lampedusa überzusetzen. “Ich habe seit der Überquerung des Mittelmeers kein Geld mehr”, sagt Hicham. “Ich hatte drei Jahre lang eisern gespart. Und jetzt werde ich hier wie ein Tier behandelt.”
Inmitten des Tunnels schaut ein kleines, dick eingemummeltes Gesicht mit großen braunen Augen aus einem Zelt. Es gehört einem Baby, Florian. Er ist gerade ein Jahr alt geworden. Seine Mutter Jocelyne hat Florian drei Monate zuvor aus Abidjan, der ehemaligen Hauptstadt der Elfenbeinküste, mitgenommen. Durch die Flucht wollte Jocelyne einer Zwangsehe entkommen und ihr Baby beschützen.

Zuerst seien sie und Florian in verschiedenen Notunterkünften am Rande von Paris untergekommen, sagt Jocelyne. Wegen des Mangels an freien Betten habe man die beiden jedoch irgendwann rausgeworfen. “Ich rufe jeden Tag bei der Obdachlosen-Hotline an und bekomme immer die gleiche Antwort: ‘Deck dein Baby ordentlich zu, wir haben keinen Platz mehr.’”
Florian kann zwar noch nicht reden, aber wenn er nachts weint, weiß seine Mutter, dass die Kälte der Grund dafür ist. Sie wickele ihn dann in noch mehr Tücher ein und versuche, ihn mit ihrer Körperwärme warm zu halten. “Ab und an bringen die Anwohnenden Milch vorbei, aber Florian trinkt sie nicht, weil sie zu kalt ist”, sagt Jocelyne.
Um 22:30 Uhr erklingt irgendwo im Tunnel plötzlich ein Lied des nigerianischen Afropop-Duos P-Square aus einem kleinen Lautsprecher. Der Geflüchtete Barry ist für die Playlist verantwortlich, und abends hat er oft Bock zu tanzen. Schon bald machen drei weitere Leute mit und es wird ein spontanes Dance-Battle veranstaltet. “Wir tanzen, damit uns nicht kalt wird”, sagt der 17-jährige Abel aus Mali.

“Eigentlich sollte das hier nur eine Übergangslösung sein”, sagt Barry. “Aber leider wird so was schnell zur Gewohnheit.” Jeden Morgen um 9:30 Uhr gehen er und Abel sich laut Barry im Brunnen eines nahegelegenen Parks abduschen. Dann kommen sie zurück und essen, was auch immer die örtlichen Hilfsorganisationen ihnen bereitgestellt haben.
Im hinteren Teil des Tunnels spreche ich mit zwei afghanischen Teenagern, die sich auf einer alten Decke niedergelassen haben. Sohrad und Samim, 15 und 16, erzählen, dass sie vor drei Monaten wegen der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan geflohen seien. Die beiden stammen eigentlich aus der Großstadt Bamiyan, die sich etwa 180 Kilometer nordwestlich von Kabul befindet. Bamiyan hat traurige Berühmtheit erlangt, weil die Taliban dort im März 2001 zwei riesige Buddha-Statuen aus dem sechsten Jahrhundert sprengten.

“Ich habe Angst vorm Schlafen, denn seit einer Woche plagen mich Albträume”, erzählt Sohrad. “Aber immerhin habe ich ein Zelt.” Die beiden Jugendlichen sagen, dass sie froh seien, im Tunnel schlafen zu können. Mit der Zeit haben nämlich immer mehr Geflüchtete hier Unterschlupf gesucht. Die neu dazugekommenen Leute müssen inzwischen vor dem Tunneleingang in durchnässten Zelten übernachten.
Um 23 Uhr begeben sich die Geflüchteten zu einem der Tunnelausgänge, weil die Hilfsorganisation Restos du Cœur – auf Deutsch so viel wie “Restaurants mit Herz” – von Montag bis Samstag um diese Uhrzeit gespendetes Essen liefert. Heute verteilen die freiwilligen Helferinnen und Helfer im Regen Thunfisch-Sandwiches, Äpfel, Kuchen und Tee. “Seit diesem Sommer ist die Lage wirklich extrem”, sagt die Helferin Sonia. Sie schätzt, dass allein ihre Organisation hier in der Unterführung und in einem anderen Pariser Geflüchtetenlager rund 800 Menschen mit Essen versorgt.
Eingekuschelt in den Armen ihres Vaters Moussa mümmelt die 15 Monate alte Hawa an einem kleinen Stück Kuchen. Moussa sagt, dass er verzweifelt auf eine richtige Unterkunft für sich und seine Tochter warte. Hawa sei seit drei Monaten krank, es gebe jedoch keine Möglichkeit, sie richtig zu untersuchen. “Ich mache mir große Sorgen um sie”, sagt Moussa. “Sie hustet die ganze Zeit und hat sich gestern mehrmals übergeben. Wir haben hier nur ein Fieberthermometer, ihre Temperatur liegt bei 39,2 Grad Celsius. Ich weiß nicht, was ich dir noch sagen soll.”
Kurz vor Mitternacht schauen noch mal einige Anwohnende im Tunnel vorbei, um in irgendeiner Weise zu helfen. Aneta ist zum ersten Mal dabei und verteilt unter den Geflüchteten warmen Ingwertee. “Es gibt eine WhatsApp-Gruppe für Leute aus der Nachbarschaft, die helfen wollen”, erzählt Aneta. “Ich konnte nicht mehr länger tatenlos hier vorbeigehen, ich hatte deswegen schon einen richtigen Knoten im Magen. Wenn die Politik diese Menschen im Stich lässt, können zumindest wir für sie da sein.”

Camille, die Gründerin und Vorsitzende der örtlichen Hilfsorganisation Tendre la main, kommt mit einem Team von Freiwilligen in den Tunnel, um Essen, Getränke und Hygieneartikel zu verteilen. “Wir versuchen, so vielen Menschen wie möglich zu helfen”, sagt sie. “Diese Woche haben wir eine Menge Klamotten an die Frauen hier weitergegeben.” Als Non-Profit-Organisation ist Tendre la main komplett auf Spenden angewiesen.
Ende November hat die Hilfsorganisation Utopia 56 es geschafft, zehn Familien aus dem Tunnel in einer Turnhalle in der Nähe des Pariser Ostbahnhofs unterzubringen. “Wir wollen für alle Menschen hier ein festes Dach über dem Kopf finden, aber es geht alles zu langsam”, sagt Pierre Mathurin, ein Sprecher von Utopia 56. “Politisch gesehen passiert gar nichts.”
Die Untätigkeit der Regierung hat Ende November auch schon zu einer Demonstration geführt. “Wir geben nicht auf. Wenn wir das hier auf die nächste Stufe heben müssen, werden wir das tun”, sagt Victor Moati, ein Anwohner und Mitglied des Kollektivs, das die Demonstration organisiert hat.

“Na klar, wir beißen die Zähne zusammen, aber wie lange noch?”, sagt eine junge Mutter zu mir, bevor ich den Tunnel verlasse. “Das ist doch keine Art zu leben. Wir haben das Elend hinter uns gelassen, nur um in der Hölle zu landen.” Dann zieht sie sich für die Nacht in ihr Zelt zurück.
Am Morgen des 14. Dezembers kommt dann die beste aller Nachrichten: Nach zwei harten Monaten im Tunnel wurden für alle 237 dort lebenden Frauen, Kinder und Männer endlich richtige Unterkünfte gefunden. Die NGO France Terre d’Asile organisiert den Umzug für die Behörden.





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