Mehrere junge Menschen sitzen an einem Tisch und essen zusammen, sie alle leben in der Villa Philosope, einer Pariser XXL-WGe, in der es seit dem Corona-Lockdown noch mehr Drama gibt
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Menschen

So sieht der Lockdown aus, wenn man mit 21 Menschen in einer WG wohnt

Hitzige Debatten, sexuelle Konkurrenz: Seit Corona gibt es in der französischen "Villa Philosophe" noch mehr Drama.

Es ist ein Freitagabend im Januar und in Frankreich dürfen die Menschen wegen der Corona-Pandemie das Haus nicht verlassen. Paris und Umgebung ist seit Dezember 2020 immer wieder im Lockdown, zu dem auch eine Ausgangssperre ab 18 Uhr gehört. 

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Aber hier bei uns, im vierten Stock der Villa Philosophe, einem großen Gebäude inmitten eines begrünten Pariser Vorortes, ist mein Mitbewohner Kiki gerade von einem Nickerchen aufgewacht. Mithilfe eines Walkie-Talkies will der frisch arbeitslose Uni-Absolvent alle bereitwilligen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner zu einem Drink vor dem Abendessen einladen: "Bzzzzz … Meldung an Kiki … Bzzzzz … Ich wiederhole, es ist Happy Hour, over."

Vier Stockwerke unter uns hängen einige meiner anderen Mitbewohnerinnen und Mitbewohner im dunklen, aber geräumigen Souterrain ab: Maxence und Loupette, beide sind 23, studieren BWL und arbeiten Teilzeit, dazu noch François-Xavier, ein 29-jähriger Luftfahrtingenieur auf der Suche nach Arbeit. Die beiden Jüngsten – Lou, 21, und Marie, 20 – schauen derweilen gebannt eine französische Reality-TV-Show.

Vier junge Männer sitzen und stehen auf einer Treppe und sprechen in Walkie-Talkies

Meine Mitbewohner koordinieren Operation "Drink vorm Abendessen"

Bevor ich in die Villa Philosophe einzog, hatte ich drei Jahre lang alleine und glücklich in einem kleinen Apartment in Paris gelebt. Aber das war vor dem Lockdown. Nachdem innerhalb weniger Monate mein Sozialleben komplett vor die Hunde ging, war ich bereit, meine Komfortzone zu verlassen und in eine 400-Quadratmeter-Villa zu ziehen, in der 21 fremde Menschen wohnen.

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Ich stolperte online über die Ausschreibung für ein freies Zimmer in der Villa Philosophe. Ich biss an. Nach einem Bier im Garten mit Maxence, Loupette und Kiki war ich dabei. Einkommensnachweise oder Bürgen waren nicht nötig. "In diesem Haus machen wir alles nach Gefühl und Vibe", sagte einer der beiden Besitzer, zwei Zwillingsbrüder, die hier anonym bleiben wollen.

Ein weißes, vierstöckiges Haus mit rotem Treppenaufgang und grünem Vorgarten

Die Villa Philosophe von außen

Anfang der 2000er Jahre entschieden die Brüder, eine XXL-WG zu gründen. Das dafür passende Haus hatte ihrer Tante gehört und sollte an ihre Mutter übergehen. Die hielt vom Vorhaben ihrer Söhne nicht so viel. Irgendwann überzeugten die Zwillinge ihre Mutter aber, ihnen ihren Anteil am Haus zu verkaufen. Dafür gingen das geerbte Geld und die Ersparnisse der Brüder drauf.

Die damals 25-Jährigen machten sich zu der Zeit große Sorgen um ihren Bruder. "Er litt an einer bipolaren Störung und hatte bereits einen Suizidversuch hinter sich", erzählt einer der beiden, den wir hier Martin nennen. "Es war nicht möglich, sich um ihn zu kümmern und gleichzeitig Vollzeit zu arbeiten." Indem die Zwillinge die Zimmer der Villa vermieteten, schlugen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen verdienten sie so genug Geld, um sich voll auf ihren Bruder konzentrieren zu können, zum anderen umgaben sie ihn nun mit einem Haus voller netter Leute. Leider nahm er sich einige Jahre später das Leben. Die Zwillinge hießen trotzdem weiter neue Menschen in ihrer Villa willkommen.

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Ursprünglich gab es in dem Haus nur sieben Zimmer. "Wir hätten niemals gedacht, dass das Ganze so groß wird", sagt Martin. "Um mehr Leute unterzubringen, ließen wir das Dach anheben und teilten einige Zimmer in zwei." 22 Zimmer für je rund 700 Euro pro Monat ergeben ein ziemlich profitables Geschäft. "Ich habe Jura studiert, musste aber noch nie arbeiten", gibt Martin zu.

Einige Zimmer haben keine Fenster. So wie das von Lou. Dafür sind an den Wänden helle und bunte Wandtapeten angebracht, um das fehlende natürliche Licht wettzumachen. "Ich verbringe sowieso nur so wenig Zeit wie möglich in meinem Zimmer und hänge lieber im Wohnzimmer ab", sagt Lou. 

Eine junge Frau sitzt in einem fensterlosen Zimmer auf ihrem Bett und liest ein Buch

Das ist eines der fensterlosen Zimmer

Um das tägliche Zusammenleben etwas zu ordnen, wurde die Vila in drei kleinere WGs aufgeteilt, eine pro Stockwerk und jede mit eigenem Wohnzimmer und Küche. Eine davon hat verschimmelte Decken und marmorierte Fußböden. Mein Stockwerk ist eher bescheiden eingerichtet und nicht so geräumig, hier leben neun Leute. Mein Wohnzimmer ist voll mit willkürlichen, halb kaputten und vergessenen Dingen – darunter auch eine täglich wachsende Sammlung an Figuren aus Kronkorken. Mit der Zeit habe ich dieses organisierte Chaos aber lieben gelernt.

Mehrere junge Menschen sitzen in einem engen Wohnzimmer auf zwei Sofas und reden miteinander

Das ist eines der Wohnzimmer

Nachdem sie zehn Jahre in der Villa gewohnt hatten, zogen die Zwillinge aus, um Platz für eine neue Generation an schnaps- und spaßliebenden Menschen zu machen. Lise, eine 28 Jahre alte Rechtsanwältin, kam nach einer schlimmen Trennung zu uns. Vorher hatte sie mit ihrem jetzigen Ex zusammengelebt. "Die Veränderung war schon brutal. In den ersten Tagen fragst du dich, was du hier eigentlich machst", sagt sie. "Aber du bist schnell Teil einer neuen Familie. Deswegen kommen die Leute auch her."

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Für Kiki kam das Highlight seiner Zeit in der Villa Philosophe während des ersten Lockdowns. "Die Mutter von einem unserer Mitbewohner hatte Geburtstag", erzählt er. "Also skypten wir alle zusammen um zehn Uhr morgens mit ihr." Dabei trank sich Kiki einen ordentlich Rausch an und rasierte sich den ersten Buchstaben des Namens der Mutter ihr zu Ehren in den Kopf.

"Wir machen hier alle gerade eine Art Teenie-Krise durch", sagt François-Xavier, der Ingenieur. "Auch ich wurde hart davon getroffen, als meine Freundin und ich quasi gleichzeitig unsere Jobs verloren." Zwar gibt es in der Villa eine ungeschriebene "Keine Techtelmechtel untereinander"-Regel, aber manchmal kommt das doch vor. Während des Lockdowns zog die Schwester eines Mitbewohners bei uns ein und schlief in den darauffolgenden Wochen mit mehreren Männern im Haus. "Da entstanden schon einige Rivalitäten", sagt François-Xavier. Seitdem ich in der Villa wohne, sind auch schon aus vier Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern zwei Pärchen geworden.

Eine Person liegt in einem Dachzimmer umgeben von Klamotten, Müll und einem Staubsauger auf dem Bett

Das ist eines der Zimmer der Villa Philosophe

Neben Spaß gibt es in der Villa Philosophe auch traurige Momente. Vor ein paar Jahren kamen zwei Bewohner bei Verkehrsunfällen ums Leben. "Einfach nur schrecklich. Wir sind dann aber alle zusammen zu den Beerdigungen, das war schön", sagt Martin. Und nach den Anschlägen vom 11. September hatte die Riesen-WG plötzlich mit dem RG, dem damaligen französischen Nachrichtendienst, zu tun. "Die kontaktierten uns, weil ein tunesischer Mitbewohner auf dschihadistischen Websites unterwegs war", erzählt Martin. Zu dieser Zeit lebte auch eine junge Frau aus Israel in der Villa. "Ich glaube, seitdem hat es hier keine so heftigen Auseinandersetzungen mehr gegeben."

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"Eigentlich sind wir hier drin alle sehr unterschiedlich. Letztendlich bringt uns der gemeinsame Alltag aber näher zusammen", sagt die 23-jährige Clarisse, die seit zwei Jahren in der Villa lebt. Wenn unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, kann es dennoch schnell hitzig werden. "Wenn wir über Feminismus reden, knallt es sehr wahrscheinlich", sagt Kiki. "Ich bin eher rechts eingestellt, während die meisten Leute hier eher links sind. Natürlich ist das frustrierend. Ich habe aber schon gelernt, meine Witze anzupassen."

Ich finde es super, in der Villa Philosophe von Menschen umgeben zu sein, die nicht die gleichen Ansichten haben wie ich. Das habe ich vorher in meinem Privatleben noch nie erlebt. Die meisten Bewohnerinnen leben nur ein oder zwei Jahre in der Villa. "Das hier ist mehr ein Übergangsort", sagt Clarisse. "Du bleibst hier eben so lange, bis du alles erlebt hast."

Mehrere Menschen tanzen und klatschen ausgelassen während einer Hausparty

In der Villa Philosophe wird viel gefeiert

Zwei junge Frauen und zwei junge Männer stehen an einer Treppe und reden und trinken Cocktails

Die Treppen sind ein beliebter Ort zum Quatschen

Eine junge Frau steht in einer kleinen Küche und kocht etwas

So sieht eine der Küchen in der Villa Philosophe aus

Hast du schon einmal an Suizid gedacht oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? In Deutschland erhältst du Hilfe unter der Nummer 0800 111 0 111 oder im Chat. Trauernde Angehörige finden bei Organisationen wie Agus Hilfe. Menschen aus der Schweiz erhalten Hilfe unter 143 oder im Seelsorgechat. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Auch hier gibt es einen Seelsorgechat. Trauernde Angehörige finden in Österreich bei Organisationen wie SUPRA Hilfe.

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