„Heiraten? What the fuck!“—Hochzeitsplanung mit Alvvays

Mit dem Debütalbum Adult Diversion hat das kanadische Indierock-Quintett Alvvays im vergangenen Jahr einen der wenigen aufregenden Gitarren-Longplayer zwischen all dem hippen Elektrogedöns platziert: verträumter Fuzzpop mit Lo-Fi-Elementen. Vorab hatte die Single „Archie, Marry Me“ im Internet bereits für heftige Aufregung gesorgt.

Ich treffe Frontfrau Molly Rankin und Gitarrist Alec O’Haney auf der Reeperbahn. Sie sind zum ersten Mal in Hamburg, die obligatorische Beatles-Tour haben sie schon hinter sich. Im Gegensatz zu den Fab Four wurde ihrer Band von so manchem Kritiker eine Halbwertszeit von nur einem Sommer prognostiziert. Nun, wir reden immer noch von ihr, und das Molotow ist später am Abend gerammelt voll. Kondenswasser perlt von der in Rotlicht getauchten Decke. „Ich komme mir vor wie in einem Nelly-Video“, sagt Molly. Wir haben vorher übers Heiraten gesprochen. Und Stripclubs.

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Molly, wie sieht für dich der perfekte Heiratsantrag aus? So pragmatisch wie in „Archie, Marry Me“? Da singst du „So honey take me by the hand and we can sign some papers / Forget the invitations, floral arrangements and bread makers.“
Molly: Ja, irgendwie so. Ich meine, vielleicht werde ich niemals heiraten, wahrscheinlich keine Kinder haben. Ich möchte auch keinen Ring tragen. Das ist alles so unpraktisch, aus so vielen Gründen. So ein riesiger finanzieller Aufwand und Zirkus, unendlich viel Stress für alle Beteiligten. Ich würde das niemals tun. Für mich wäre ein Antrag also a) nicht existent oder b) „Wir sollten vielleicht diese Formulare ausfüllen und an die Verwaltung schicken, so dass wir unsere Steuern zurückkriegen.“
Alec: Jedenfalls kein Antrag auf der Anzeigentafel im Football-Stadion, womöglich mit einem Hot Dog in der Hand. Das klingt wenig verlockend.
Molly: Und auch taktlos. Ich meine, wenn das die Art ist, wie du deine Partnerschaft beginnst. Ich mag es, wenn die Frau davonstürmt und den Typen stehen lässt: „What the fuck?“
Alec: Wir waren in Toronto mal bei einem Basketballspiel der Raptors und in der Halbzeit hat einer ’nen Antrag gemacht. Sie hat zwar „Ja” gesagt, aber es war schon ziemlich geschmacklos.
Molly: Das Ganze hat 15 Sekunden gedauert. Es war verrückt: Eben noch läuft das Spiel, zehn Sekunden später wird sie gefragt und dann begleiten die Cheerleader die beiden hinaus, als würden sie von einer Bühne schreiten.

Wenn man sich eure Platte anhört, könnte man trotzdem auf die Idee kommen, dass ihr Romantiker seid?
Alec: Gewissermaßen, ja.
Molly: Realistische Romantiker. Wir sind ziemlich zynische Zeitgenossen. Aber ich denke, das musst du in der heutigen Zeit auch sein.
Alec: Oh, wir sind nicht zynisch. Wir sind…
Molly: …kritisch?
Alec: Kritisch.

Als ich euer Album zum ersten Mal gehört habe, kam mir spontan der Film „Reality Bites“ in den Sinn. Es klingt nach dem perfekten Soundtrack für eine dieser melancholisch-romantischen Tragikomödien aus den 90ern.
Alec: Ah ja, für „Empire Records“ vielleicht. Ich hatte den „Dumm und Dümmer“-Soundtrack. Aus irgendeinem Grund besitzt jeder in Kanada den „Dumm und Dümmer“-Soundtrack. Jede Menge Collegepop, amerikanischer und englischer Indierock, mit dem wir uns zweifellos identifizieren können. Wir lieben den „Crash“-Song von The Primitives. „Reality Bites“ habe ich aber nie gesehen.
Molly: Ich auch nicht.

Mit Winona Ryder, Ethan Hawke und Ben Stiller. Eine dieser typischen 90er-Jahre Dramedys.
Alec: Das ist ein eklatantes Loch in unserem Wissen über das Kino der 90er-Jahre.
Molly: Müssen wir nachholen.
Alec: Wir sind immer auf der Suche nach neuen Filmen, die wir auf unsere Liste packen können.

Wenn einer eurer Songs auf einen Soundtrack sollte oder ihr einen Score schreiben könntet, welche Art von Film würde ihr euch aussuchen?
Alec: Ich denke, die langsameren Songs auf unserem Album haben einen gewissen filmischen Ansatz. „Dives“ male ich mir als Film aus, wenn ich die Augen schließe. Wie einen kalten…
Molly: …schwedischen Film. Wie „Let Me In“.
Alec: Ja, „So finster die Nacht“. Und bei „Red Planet“ denke ich an „2001 – A Space Odyssey“, so eine psychedelische Weltraumgeschichte. Die schnelleren Lieder würden sich hingegen eher für „Fast Times at Ridgemont High“ (deutscher Titel: „Ich glaub’, ich steh im Wald“, Anm. d. Red.) eignen. Für „The Breakfast Club“ oder diese ganzen Brat-Pack-Streifen.
Molly: Wir bewegen uns hier gerade in der Filmwelt. Wir sind aber in der Musikwelt zu Hause.

Okay, zurück zur Musik. Was sagt ihr denn Leuten, die in den letzten zwei, drei Jahren den Abgesang auf die Gitarre und das Rockalbum angestimmt haben?
Alec: Das haben sie wahrscheinlich auch schon 1997 getan. Oder als Disco aufkam. Das ist so ein wiederkehrendes Ding.

Aber die letzte Zeit ist schon eher elektronisch geprägt.
Molly: Wir schwimmen gegen den Strom, klar.
Alec: Wir sind quasi im strukturellen Nachteil, weil wir Gitarrenpop machen. Aber glücklicherweise gibt es immer noch Menschen, die auf Rockgitarren stehen. Uns eingeschlossen. Nicht jeder sollte wie Bon Iver klingen. Oder nach EBM. Wir mögen zwar vieles von dem Zeug. Eine unserer Lieblingsplatten des letzten Jahres war Todd Terjes „It’s Album Time“. Im Grunde ist sie wie eine Daft-Punk-Platte aus der „Homework“-Ära, eine wirklich gute Party-Dance-Scheibe. Man sollte sie trotzdem mit etwas gutem Jangle mischen – und immer die Balance wahren. Wir haben sehr wohl registriert, dass der Gitarrenpop in einer kleinen Krise steckt. Ich frage mich oft, ob das daher kommt, dass Kritiker Bands dieses Genres verdammt schnell als „nicht innovativ“ abstempeln oder behaupten, sie würden „kein Neuland betreten“.
Molly: Das umfasst auch eine Menge des Feedbacks, das wir bekommen. Auch wenn alle erstmal sehr empfänglich sind, heißt es immer: „Obwohl dieses Genre ein totales Klischee ist…“
Alec: Ja, das ist immer das Kriterium.
Molly: Als unser Album rausgekommen ist, habe ich einige Reviews gelesen. Jetzt tue ich das nicht mehr. Viele scheinen etwas zwiespältig: „Obwohl ihr euch auf ausgelatschtem Terrain bewegt, ist die Platte großartig.“
Alec: Wir glauben allerdings, dass man 2015 durchaus neue Wege beschreitet, wenn man solide Gitarren-Popsongs schreibt. Wir experimentieren ja ab und zu auch mit Drumcomputern. Elektronische Musik mit wenigen oder gar keinen Vocals ist viel universeller, diesen Weg hätten wir auch einschlagen können. Aber wir sind nun mal von ganzem Herzen Gitarrenliebhaber.

Zudem hat der Rolling Stone „Archie, Marry Me“ zum elfbesten Song des Jahres 2014 gekürt. Und auch sonst taucht ihr in einigen Must-Hear-Listen auf. Habt ihr so etwas wie einen Hype verspürt?
Alec: Wie schon gesagt, es war nicht nur überwältigend positiv. Aber es war natürlich schön zu sehen, dass unser Sound gut ankommt. Was wir so nicht erwartet hatten. Wir sind nie vom Erfolg ausgegangen. Wir arbeiten daraufhin, aber wir erwarten ihn nicht.
Molly: Wir kommen halt nicht aus irgendeiner Underground-Szene in Toronto oder Edmonton. Wir hatten niemanden, der uns irgendwo eingeführt oder uns ein Empfehlungsschreiben ausgestellt hat. Und wir haben vorher auch nicht in der oder der angesagten Punkband gespielt.
Alec: Wir waren schwer uncool.
Molly: Aber manchmal lässt du den Leuten einfach keine Wahl und schreibst einen Song, den sie nicht ignorieren können.

Es ist offensichtlich, dass die 90er-Jahre euch stark beeinflusst haben, etwas weniger die 60er und 70er.
Molly: Ein bisschen auch der 80er-Pop.

Was sagt ihr jemandem, der euch als reines Retroprodukt abtut?
Alec: Wir unterscheiden nicht nach Jahrzehnten. Die 90er waren natürlich wegweisend, weil wir in der Zeit aufgewachsen sind.
Molly: Das war die Zeit, in der wir Kontrolle darüber bekommen haben, was wir konsumieren.
Alec: Davor war es die Musik unserer Eltern, wie Simon & Garfunkel, ABBA, Fleetwood Mac. Für Molly eventuell ein bisschen Elton John?

Wirklich?
Alec: Es scheint vielleicht nicht durch, aber ja. Und dann waren da noch Songwriter wie Gordon Lightfood aus Kanada. Sowie eine ganze Menge irische und schottische Folksongs, die Molly früher auf der Geige gespielt hat.

Da kommt dein Folkbackground als Mitglied der Rankin Familiy durch.
Molly: Ja, viele keltische Traditionals und ursprüngliche schottische Geigenstücke.
Alec: Ich habe Trompete gespielt, in der Highschool-Jazzband, gemeinsam mit unserem Bassisten Brian.

Das ist dann alles auf dem zweiten Album zu hören.
Alec: Eher nicht. Aber ich kann ein schönes Flügelhorn hören. Vielleicht? Das ist weicher und leichter. Verspielter.
Molly: Vielleicht eine Flöte.
Alec: Oh ja, Flötensounds. Wie auf den frühen Kraftwerk-Platten, bevor sie komplett elektronisch wurden.

Wenn ihr durch die Zeit reisen könntet, welches Jahrzehnt würdet ihr wählen?
Alec: Hm? Von 1965 bis 1975. In diesen zehn Jahren kam die beste und grundlegend prägende Musik raus.

Zum Beispiel?
Alec: The Zombies, Prä-Punk wie Nick Lowe, Kraftwerk haben in dieser Phase begonnen. Und all die großen Jungs. Politisch werden die 60er-Jahre idealisiert, aber sie waren auch die liberalste Zeit. Es gab Hoffnung, John Lennon war noch am Leben. In den 80ern wurde dann alles sehr düster, um die Zeit, in der wir geboren wurden. Und seitdem herrscht Trostlosigkeit – weltweit. Was die Musik angeht, wäre es schön gewesen, The Chills zu sehen. The dB’s. Dolly Mixture. Und dabei zu sein, als R.E.M. starteten. Die Stone Roses in ihren Anfängen gesehen zu haben, wäre extrem cool gewesen. Aber dafür sind wir ein bisschen zu jung.
Molly: Letztlich geht’s doch um Songs. Ich bin ja einer großer Fan des Genres „Song“.

Ihr habt das Album mit Chad Van Gaalen, Graham Walsh und John Agnello aufgenommen und produziert. Wer hatte denn den meisten Einfluss?
Molly: John war am objektivsten. Er kam in der späteren Phase dazu. Ich war sehr inspiriert von Chads vorherigen Produktionen wie den Women-Alben oder seinen eigenen Platten mit diesen wunderbaren Klangfarben der Gitarren. Er hat uns sehr darin bestärkt, nach uns zu klingen.
Alec: Für uns ist die Produktion eine nebulöse Angelegenheit. Wir wissen nicht wirklich, was es damit auf sich hat. Aber Chad hatte definitiv einen riesigen Einfluss auf den akustischen Rahmen des Ganzen. Allein dadurch, dass er ein Tonbandgerät von 1982 hat, mit dem wir aufgenommen haben: ein Tascam 388.

Ich hätte auf John Agnello getippt. Die Kontraste in eurem Sound erinnern ein bisschen an Sonic Youth: Atmosphäre trifft auf Lärm.
Alec: John hat’s verstanden, auf jeden Fall. Er wusste genau, was wir machen wollten. Er war aber mehr am Mixing zum Ende hin beteiligt.
Molly: Wir haben nicht so viel mit ihm aufgenommen. Aber eine Sache habe ich mir gemerkt: Wie er das Keyboard auf eine andere Stufe emporgehoben hat. Er hat es durch irgendein Gerät geschickt, das es wirklich wunderschön und analog hat klingen lassen, knackig und historisch.
Alec: John ist der Tonmeister, ganz klar! Er ist großartig darin, dieses Mid-Fi-Ding zu kreieren, das weder zu glatt noch zu schäbig ist. Wir sind schließlich eine Popband, wir wollen die Mitte ansprechen.
Molly: Während der Aufnahmen haben wir aber immer wieder gesagt: Oh mein Gott, das wird niemals im Radio laufen.

Trotzdem habt ihr keine Kompromisse gemacht.
Molly: Nein, es war was wir wollten. Aber ich weiß nicht, ob wir es auf dem nächsten Album zwangsläufig wieder genauso machen werden. Vielleicht wollen wir dann…

…Trompeten und Flügelhörner.
Alec: Flöten und Flügelhörner. Weil wir keine Kompromisse eingegangen sind, hat es aber auch eine Weile gedauert, das Album fertig zu kriegen. Wenn es unsere Qualitätskontrolle nicht bestanden hat, war es nicht fertig. Mir ist klar, dass Menschen sich in so etwas verrennen können, aber manchmal kommt es eben auf die Kleinigkeiten an.

Spielt darauf auch der Albumtitel „Adult Diversion“ an? Dass man sich für einen Lebensstil entscheiden muss, wenn man erwachsen wird. Und viele Dinge schlucken.
Alec: Ja, was bist du bereit runterzuwürgen?
Molly: Der Titel hat eine doppelte Bedeutung. Ich mag die Idee dieser gegensätzlichen Wortkombination. Ich denke, sie passt zu dem, was wir alle immer wieder durchmachen in unserem Leben. Knicken wir ein, vergessen, was uns wirklich Spaß macht und streben stattdessen eine ordentliche Karriere an? Oder ziehen wir unser Ding durch?
Alec: Er ist eine ausgefallene Art zu sagen: „Spiel!“ Wie zu einem Kind. Für uns bedeutet das, Songs zu schreiben, auf der Bühne zu stehen, in Hamburg in Stripclubs zu gehen.

In der Reihenfolge.
Alec: Im juristischen Sinne steht „Adult Diversion“ zudem für ein Verfahren, mit dem du als jugendlicher Straftäter einen Gefängnisaufenthalt abwenden kannst. Du musst mit einem Anwalt reden, vor Gericht offiziell erklären, dass dir leid tut, was du getan hast, und dass du es nie wieder tun wirst und ein Bußgeld zahlen. So vermeidest du einen Eintrag in deine Strafakte und dein Vorstrafenregister bleibt sauber. Wir haben beide diesen Prozess durchlaufen.

Warum das?
Alec: Wir hatten mal Stress mit ein paar Cops. Das war nach einem Musikevent in Cape Breton. Molly hat Pfefferspray abbekommen und mich haben sie verprügelt. 2010 war das, oder?
Molly: Ja. An meiner Wand hängt ein gerahmtes Zertifikat, das besagt: Sie haben Adult Diversion abgeschlossen. In vier oder fünf Jahren wird ihre Akte gelöscht.
Alec: Ja, 2015 ist es durch.
Molly: Yeah! Bald sind wir wieder sauber!

Ob’s bei Molly, Alec, Kerri, Brian und Phil nach der Show in dem einen oder anderen Stripclub noch schmutzig geworden ist? Ich weiß es nicht.

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