Als ich mich für ein Leben abseits der Gesellschaft entschied, fühlte sich das richtig an – aus spiritueller, aus umweltfreundlicher und aus finanzieller Sicht. Mit meiner Partnerin in eine Hütte mitten im Wald zu ziehen, erschien mir wie ein cleverer Weg, in einer berüchtigt teuren Gegend, dem Süden der kanadischen Provinz British Columbia, günstig zu wohnen. Und gleichzeitig könnten wir uns so noch ein paar nützliche Dinge zur Selbstversorgung beibringen.
Aber nach einigen Monaten voller eiskalter Morgen, an denen ich Eimer voller kompostierter Exkremente ausleeren musste, bin ich immer noch so pleite wie eh und je.
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In Zeiten, in denen das Wohnen in der Stadt immer teurer wird, erscheint ein Leben abseits der Gesellschaft vielen jungen Menschen als attraktiv. In Vancouver in British Columbia kostet ein Wohnhaus durchschnittlich 1,2 Millionen Kanadische Dollar, etwa 830.000 Euro, auf einer Liste der teuersten Städte Nordamerikas steht die Metropole ganz oben. Im Oktober des vergangenen Jahres berichtete VICE, dass die Schere zwischen Arm und Reich dort noch weiter aufzugehen droht, weil durch den Klimawandel niedrig gelegene Häuser weggespült werden könnten. Nur wenige Wochen später schnitten schwere Überschwemmungen und heftige Regenfälle Vancouver vom Rest Kanadas ab und setzten mehrere Autobahnabschnitte sowie ganze Städte in British Columbia unter Wasser.
Dazu kommt, dass viele der jungen Erwachsenen, die weder durch steigende Kosten noch steigende Wasserpegel aus den Städten gedrängt werden, über ihre eigene Umweltbelastung nachdenken und sich entweder für das Arbeiten von zu Hause aus entscheiden oder ihren Job komplett kündigen.
“Es gibt da diesen Ausdruck ‘Fuck-off money’, also die Menge Geld, mit der man einen Neuanfang wagen könnte. Man braucht tatsächlich viel weniger davon, wenn man abseits der Gesellschaft lebt”, sagt Nick Rosen, ein britischer Filmemacher und Autor der Buchs Off the Grid: Inside the Movement for More Space, Less Government, and True Independence in Modern America.
Laut Rosen sei Bezahlbarkeit der häufigste Grund dafür, dass sich Menschen für ein Leben ohne fließendes Wasser und Strom entscheiden. Andere Gründe hätten einen politischen Hintergrund, etwa der Wunsch nach einem kleineren CO2-Fußabdruck, die Vorbereitung auf einen etwaigen ökologischen Zusammenbruch der Gesellschaft oder eine Abneigung gegenüber unserem Konsumverhalten.
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“Manche Menschen sehen in dem Ganzen auch etwas sehr Romantisches. Es ist ja auch ein toller Schritt für junge Pärchen”, so der Autor.
Da ich mich vor Kurzem selbst zusammen mit meiner Partnerin in das Abenteuer abseits der Gesellschaft gestürzt und eine kleine, heruntergekommene Hütte mitten im Nirgendwo von British Columbia gekauft habe, spreche ich aus Erfahrung: Nur wenige Dinge sind so romantisch wie ein gemeinsames Abendessen bei Kerzenlicht, während im Ofen ein wärmendes Feuer knistert.
Andererseits versprüht es nicht gerade Herzchenstimmung, wenn wir jeden Tag unsere eigene Scheiße ausleeren müssen, weil es hier keine Toilette mit Spülung gibt.
Ja, wir haben unseren Rohstoffverbrauch drastisch reduziert und uns wertvolle Fähigkeiten angeeignet. Gleichzeitig zweifle ich inzwischen daran, ob es wirklich sinnvoll ist, abseits der Gesellschaft zu leben, wenn man Geld sparen will.
Das regenreiche Klima von British Columbia sorgt dafür, dass unser Trinkwasser umsonst vom Himmel fällt. Gleichzeitig macht es unsere kleine Solaranlage oft nutzlos. Dann müssen wir Geld für Diesel ausgeben, um unseren Strom aus einem lauten, Abgase ausspuckenden Generator zu beziehen.
Da wir nach unserem Einzug in die Hütte nicht die Zeit hatten, um genug Holz für den Winter zu sammeln und zu trocknen, mussten wir etwa 400 Euro für eine bis zum Frühling ausreichende Menge an Feuerholz bezahlen. Und unser Gasherd ist zwar effizient, aber die Propanpreise schießen derzeit vor allem in Nordamerika durch die Decke.
Wenn man da noch die Kosten für die Kettensäge (175 Euro), Akkus (200 Euro) und einen Handysignal-Booster (400 Euro) für die Arbeit von zu Hause mit einberechnet, bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob wir hier weniger bezahlen als in einer möblierten Wohnung mit richtigem Strom.
Der 26-jährige Jaymie Friesen veranstaltet zusammen mit seinem Bruder Shelby auf einem großen Stück Land im Süden von British Columbia regelmäßig Workshops zum Leben abseits der Gesellschaft. Er sagt, dass dieses Leben nicht zwangsläufig mit Kostenersparnissen einhergehe.
Er rechnet es so vor: Am Anfang solltest du einplanen, mindestens 490 Euro pro Monat für ein kleines Zuhause auszugeben, dazu kämen 280 Euro für einen Platz auf einem Stück Land, plus die Kosten von Versicherungen, Treibstoff und anderen Rechnungen. Außerdem brauche man eine Stromquelle, eine Wasserquelle, Werkzeug, mindestens ein zuverlässiges Fahrzeug und einen Generator für den Notfall.
Geld spare man eher langfristig, vor allem wenn man es schaffe, ein eigenes Stück Land zu kaufen. In ihrem Azhen Sanctuary bringen die Friesen-Brüder den Leuten bei, wie man am besten eine Crowdfunding-Kampagne startet, eine Ökosiedlung gründet und an günstiges Baumaterial kommt, um das Leben abseits der Gesellschaft auch für die erreichbar zu machen, die sich kein Haus leisten können.
Allgemein gilt: Je weiter weg du von einer Stadt bist, desto günstiger ist das Land – und desto mehr Freiheiten hast du damit. Du kannst dort zum Beispiel Obst und Gemüse anbauen, was sehr vorteilhaft ist, wenn es beispielsweise zu pandemiebedingten Panikkäufen in den Supermärkten kommt.
“Der finanzielle Vorteil würde vor allem dann ersichtlich werden, wenn man an ein größeres Stück Land kommt. Denn dann hat man langfristig gesehen viele Optionen, um mehr finanzielles Vermögen aufzubauen – Optionen, die mit einer Wohnung oder einem Haus in der Stadt nicht drin sind”, sagt Friesen.
Friesen betont, wie wichtig es sei, sich vor dem Schritt raus aus der Stadt umfassend zu informieren.
Dutzende beliebte YouTuber glorifizieren das Leben abseits der Gesellschaft in kleinen Hütten oder als digitale Nomaden in Camper-Vans, ohne dabei näher auf die banalen und unbequemen Aspekte ihres Lebens einzugehen. In ihren Videos sieht man zum Beispiel nur selten etwas davon, wenn sie frierend aufwachen, weil nachts das Feuer ausgegangen ist, oder wie sie ihre vollen Abfallbeutel in die Stadt bringen, um sie heimlich in die Müllcontainer hinter irgendeinem Supermarkt zu werfen.
“Stell dir vor, jemand kauft sich einen Wohnwagen und zieht ohne großen Plan im Frühling raus in die Natur. Der Sommer wird dann bestimmt super. Aber danach folgt der harte Winter.”
Friesen sagt zudem, dass manche Leute in ihr Leben abseits der Gesellschaft starteten und dabei ihre eigenen Fähigkeiten überschätzten – und gleichzeitig unterschätzten, wie viel Arbeit und Wissen nötig ist, um mitten im Nirgendwo zu überleben.
“Stell dir vor, jemand kauft sich einen Wohnwagen und zieht ohne großen Plan im Frühling raus in die Natur. Der Sommer wird dann bestimmt super. Aber danach folgt der harte Winter”, sagt Friesen.
“Jetzt wird dieser Person klar, dass der Wohnwagen nur wenig bis gar nicht isoliert ist. Dazu frieren die Wasserleitungen ein, der Generator kackt ab, es gibt keine zweite Wärmequelle und keine Maschine, die den ganzen Schnee wegräumen kann. Und die nächste Stadt ist 50 Kilometer entfernt”, sagt Friesen weiter. “Diese Person setzt sich und die eigene Familie so unnötigem Stress und vielleicht sogar Lebensgefahr aus.”
Aktuell würden sich laut Friesen viele Menschen aus Angst vor dem Coronavirus oder vor Zwangsimpfungen für ein Leben abseits der Gesellschaft interessieren. Entsprechende Facebook-Gruppen können deswegen von Impfgegnern durchzogen sein, manche von ihnen wollen Gemeinschaften gründen, in denen Impfpässe als Verstoß gegen die Menschenrechte gelten.
Vor fast zwei Jahren hatte ich meinen letzten Vollzeitjob in der Stadt. Seitdem habe ich mein Leben so neu strukturiert, dass ich nicht mehr “9 to 5” arbeiten muss. Viele Millennials gehen da ähnlich vor, in dieser Generation besteht allgemein weniger Interesse daran, die Karriereleiter hochzuklettern.
Einen Teil der Zeit, die ich sonst in einem Büro abgesessen hätte, verbringe ich jetzt mit körperlicher Arbeit und dem Lösen von Problemen, die unweigerlich aufkommen, wenn hier etwas kaputt geht. Ich bin in der Stadt aufgewachsen und habe fast keine handwerklichen Fähigkeiten, es kann also schnell frustrierend werden. Und im Winter ist unser Zufahrtsweg wegen des ganzen Schnees nicht mehr befahrbar. Unser Kontakt zur Außenwelt wird dadurch noch mehr eingeschränkt.
Nicht jeder Mensch ist solchen Unbequemlichkeiten gewachsen. Das Leben abseits der Gesellschaft kann einem aber auch viel geben.
Friesen sagt, dass es ihm der Schritt ermöglicht habe, seine Umweltbelastung so gering wie möglich zu halten, gesünder zu essen, ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und seine psychische Gesundheit durch die Nähe zur Natur zu stärken. “Ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Leben gut und gesund für Menschen, Familien, Communitys und den Planeten ist”, sagt Friesen.
Bei einer Studie der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Ecological Economics kam heraus, dass die Teilnehmenden durch 14 zusätzliche Vogelarten um sich herum im gleichen Maße glücklicher wurden wie durch rund 132 Euro mehr im Monat (bei einem Nettoeinkommen von 1.279 Euro). Das kann ich voll verstehen. Für mich gibt es nur wenige Dinge, die schöner sind als die wohlklingenden Melodien, die Singvögel beim Sonnenaufgang vor sich hin trällern. Oder die sanften Rufe einer Eule unter den leuchtenden Sternen eines klaren Nachthimmels.
Weil ich für Wärme, Strom und Wasser hart arbeiten muss, bin ich mir meines Konsums viel bewusster geworden. Ich habe gelernt, mit einem Bruchteil der Ressourcen auszukommen, die ich in der Stadt verbrauchen würde. Einige meiner “Bedürfnisse” empfinde ich inzwischen als Luxus. Tagsüber schalte ich keine Lampen mehr an. Und anstelle der täglichen Duschen tut es jetzt auch ein Bad alle paar Wochen.
“Wir befinden uns gerade mitten in einem großen Experiment, wie viele Teile der Arbeiterschaft weiter von zu Hause aus arbeiten werden, wenn die durch die Pandemie erzwungenen Isolationsmaßnahmen enden.”
Elvin Wyly ist ein Professor an der University of British Columbia, der sich mit Marktprozessen und der Politik von urbaner Ungleichheit beschäftigt. Er sagt, der Fokus auf das pandemiebedingte Arbeiten von zu Hause aus falle mit einem “stark wachsenden Bewusstsein für Umweltprobleme bei einer neuen Generation” zusammen. Das führe zu einer Veränderung in der urbanen und ländlichen Bevölkerung.
Wyly rechne zwar nicht mit einer Massenflucht aus den Städten, dafür aber mit einer “drastischen Sortierung”: Die Leute inner- und außerhalb der urbanen Zentren würden zum Beispiel danach getrennt werden, in welchem Umfang sie sich Wohnraum leisten und ob sie ihr Leben digital organisieren können.
“Wir befinden uns gerade mitten in einem großen Experiment, wie viele Teile der Arbeiterschaft weiter von zu Hause aus arbeiten werden, wenn die durch die Pandemie erzwungenen Isolationsmaßnahmen enden”, sagt Wyly.
Natürlich wünsche ich mir manchmal, einfach eine Heizung einschalten oder lange heiß duschen zu können. Aber das Leben im Einklang mit der Natur verschafft mir in einer Welt gezeichnet von Überkonsum eine andere Art der Zufriedenheit. Und das ist etwas, das kein beständiger Bürojob und kein Apartment in der Innenstadt ersetzen kann.
Wenn du jedoch nur einen einfachen Weg suchst, um Geld zu sparen, solltest du dich vielleicht noch mehr informieren, bevor du die Lichter der Stadt hinter dir lässt.