Dieser Text erschien zuerst in der ‘The Hello Switzerland Issue’ – dem ersten VICE-Magazin, das vom ersten bis zum letzten Buchstaben in der Schweizer Redaktion entstanden ist.
Sonntagmorgen, kurz nach 08:00 Uhr – auf der Langstrasse liegen Glasscherben, daneben starten Nachtschwärmer mit einer Zigarette in den neuen Tag. Ein paar wenige Haltestellen entfernt, an der Bahnhofstrasse, warten junge, eritreische Frauen und Männer in weisser Kleidung auf das Tram Richtung Wollishofen. Hier treffe ich Rahel und ihre Freunde Aklilu, Berhane und Awet, um mit ihnen einen eritreisch-orthodoxen Gottesdienst zu besuchen.
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Jeden zweiten Sonntag feiert die eritreisch-orthodoxe Gemeinde in der reformierten Kirche auf der Egg in Wollishofen ihre Messe – vorläufig für ein Jahr. Bei der Eingangspforte haben wir uns mit Yonas, dem Verantwortlichen des Gottesdienstes, verabredet: Ein Mann in beigem Anzug, mit Schnauz und abstehenden Zähnen, die er beim Lachen entblösst. Er reicht uns die Hand, goldene Ringe zieren seine Finger. “Ich freue mich sehr, dass ihr zu uns kommt”, sagt er. Über den Schultern hat er bereits einen weissen Schal drapiert. Mit einem Blick auf seine schwarz-grau gemusterten Socken meint er, fast entschuldigend: “Bei uns ist es so: Wir ziehen die Schuhe vor der Kirche aus.” Rund um die Eingangstüre stapeln sich unzählige Turnschuhe und Sandalen, daneben sind etwa 20 Kinderwagen geparkt, ein Junge scherzt: “Die eritreischen Autos.”
Während wir unsere Schuhe ausziehen, organisiert Yonas die Schleier. Rahel hilft uns, sie richtig anzuziehen: Die Frauen verdecken damit die Haare, kreuzen die beiden Enden vor der Brust, werfen sie über die Schultern und verknüpfen sie im Nacken. Yonas führt uns in den Saal, auf der rechten Seite stehen die Frauen und alle Kinder, auf der linken die Männer. “Das ist wegen der Aufmerksamkeit”, sagt Rahel. “Wir sollen uns nicht gegenseitig ablenken. Die Frauen verhüllen aus diesem Grund auch ihre Haare und tragen weite Röcke.”
Es gibt kaum noch Sitzplätze – von solch einem Ansturm können die Schweizer Pfarrer selbst an Weihnachten nur träumen. Yonas war bereits den ganzen Samstagnachmittag hier und hat alles vorbereitet. An den Wänden hängen knallbunte Jesusbilder, auf dem Podest steht ein roter Samtvorhang verziert mit farbigen Lämpchen. Der Gottesdienst hat zwar schon begonnen, doch noch immer strömen Menschen in den Saal. Die Frauen stehen dicht gedrängt vor den Bänken. Viele mit Babys in den Armen, die sie während des Gottesdienstes stillen. Die Fotografin, mein Freund und ich sind die einzigen drei Weissen in der Kirche. Niemand starrt uns an, niemand wirft uns fragende Blicke zu.
Drei Priester in goldenem Gewand singen abwechselnd ins Mikrofon. Ich verstehe kein einziges Wort. So erging es wohl auch den Mädchen vor mir, als sie die erste Schulstunde in der Schweiz besuchten. Etwa 15 weiss gekleidete Männer bilden einen Halbkreis vor den Pfarrern: “Diakone und andere wichtige Kirchenleute”, erklärt Rahel. Sie alle halten einen Holzstock in den Händen, der an die Qualen erinnern soll, die Jesus am Kreuz erlitten hat. Mit dem Rücken zum Publikum stehen zwei Pärchen, die heute heiraten. Die erste Bankreihe auf der “Frauenseite” bleibt vorerst leer, hierhin setzen sich dann die Mütter mit den frisch getauften Kindern.
Ob es Schwierigkeiten wegen des Fotografierens geben könnte, fragten sich die Fotografin und ich vor der Reportage. Schliesslich sind wir in einer Kirche. Yonas sagte nur: “Ihr dürft alles fotografieren – ausser während der Kommunion. Dann ist es verboten.” In der Kirche zähle ich vier Fotografen, die die Hochzeitspärchen, das Publikum und die Zeremonie filmen und mit Blitz fotografieren. Es ist erst 09:00 Uhr, doch in der Kirche ist es schon stickig heiss. Etwa 200 Leute, vor allem junge, quetschen sich auf die Bänke. “Das sind noch wenige”, sagt Rahel. “Normalerweise stehen viele im Gang.” Die weissen Schleier stehen für Reinheit und Sündlosigkeit. Ein paar Frauen bleiben draussen vor dem Saal, weil sie gerade ihre Periode haben. Das wird als unrein angesehen. “In der Kirche muss alles rein sein, das ist bei uns das höchste Gebot”, sagt Rahel. Sie kennt es nicht anders und findet diese Vorschrift “normal”. Frauen könnten zwar nicht Priester werden, aber sonst hätten Männer und Frauen die gleichen Rechte in der Kirche, sagt Rahel. Sie selbst fühle sich jedenfalls gleichberechtigt.
Wie auf Kommando knien sich alle hin und berühren mit der Stirn den Boden oder die Lehne der Bank vor ihnen, während sie etwas murmeln. Zwei junge Männer gehen mit einer Bibel durch die Reihe. Der eine trägt einen goldenen Schirm, der andere streckt das Buch den Teilnehmenden hin, die es mehrmals abwechselnd mit Mund und Stirn berühren – ein Zeichen der Verehrung. Ein höchstens dreijähriger Junge ist bereits mit dem Ritual vertraut und tut es seiner Mutter gleich.
Seit 2008 machen die Eritreerinnen und Eritreer die grösste Gruppe der Asylsuchenden in der Schweiz aus. Im Jahr 2015 haben 9.966 Eritreerinnen und Eritreer ein Asylgesuch gestellt, diese Zahl ging im Jahr 2016 auf 5.178 Gesuche zurück. Das sind aber immer noch 18 Prozent aller in der Schweiz gestellten Gesuche in diesem Jahr. An zweiter und dritter Stelle folgen Afghanistan mit 11 und Syrien mit knapp 8 Prozent. Im Jahr 2016 erhielten 42.5 Prozent der eritreischen Antragsteller in der Schweiz Asyl. Die Bevölkerung Eritreas besteht zu fast gleichen Teilen aus sunnitischen Muslimen und Christen – eritreisch-orthodoxen, katholischen und protestantischen.
Seit 1993 wird das Land im Nordosten Afrikas von Isaias Afewerki und seiner Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) allein regiert. Die Verfassung wurde nie umgesetzt, es gibt keine Gewaltentrennung. Immer wieder werden Journalisten und Regierungskritiker verhaftet und ohne Strafverfahren festgehalten. Seit dem eritreisch-äthiopischen Grenzkrieg von 1998 bis 2000 müssen alle Eritreerinnen und Eritreer zwischen 18 und 50 Jahren einen obligatorischen “Nationaldienst” leisten. Eigentlich dauert dieser 18 Monate, aber seit 1998 kann die Dauer der Dienstpflicht unbeschränkt bis zum 50. Lebensjahr verlängert werden. Dies wird damit begründet, weil der Alleinherrscher den Ausnahmezustand ausgerufen hat. Die Aussicht auf lebenslangen Militärdienst treibt viele Eritreer ins Exil. Die meisten reisen landwegs via Sudan nach Libyen, von dort per Boot nach Italien und dann weiter nordwärts.
Als ich in der Kirchenbank sitze und vom Singsang eingelullt werde, erinnere ich mich an eine Schulstunde an der Autonomen Schule in Zürich zurück. Dort unterrichte ich einen Nachmittag pro Woche eine Klasse in Deutsch. Das Thema war Adjektive: Bedeutung, Gegenteil und Steigerungsformen. “Wer weiss einen Beispielsatz zu ‚mutig’?”, frage ich. Alle 50 Teilnehmenden schweigen. Dann halt ich: “Ich bin mutig, weil ich im Alter von fünf Jahren vom 10-Meter-Brett sprang.” Ein einfacher Satz, ein triviales Beispiel. Ein Teilnehmender aus Eritrea meldet sich. Er sitzt in der hintersten Reihe, ist 17 Jahre alt und sagt leise: “Ich bin mutig, weil ich mit einem kleinen Boot über das Mittelmeer kam.” So wie wohl die meisten an diesem Sonntagmorgen in der Kirche.
Es ist mittlerweile 10:00 Uhr und zum ersten Mal setzen sich die Gottesdienstbesucher hin. Ein kleines Mädchen rennt mit einem mit Chips gefüllten Becher durch die Reihen, ein anderes liegt dösend auf der Bank und einer der drei Priester liest aus der Bibel vor. Ich bitte Rahel zu übersetzten, doch selbst sie versteht nicht alles. Denn die Sprache ist nicht Tigrinya, sondern Geez – auch Altäthiopisch genannt. Bis ins 19. Jahrhundert war Geez Amtssprache in Äthiopien und Eritrea. Heute ist sie nur noch die Sprache in der äthiopisch-orthodoxen und eritreisch-orthodoxen Kirche und wird im Alltag nicht mehr benutzt. Die eritreisch-orthodoxe Kirche existiert erst seit der Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien 1993, bezüglich Lehre unterscheidet sie sich aber kaum von der äthiopisch-orthodoxen Kirche, auch Tewahedo-Kirche genannt: Tewahedo bedeutet Einheit und meint die Vereinigung der menschlichen und göttlichen Natur in Jesus. Die Tewahedo-Kirche nimmt stark Bezug auf das alte Testament und beinhaltet viele Elemente des Judentums wie zum Beispiel verschiedene Reinheits- und Speisevorschriften.
Der Priester tritt zu den beiden Pärchen, die nebeneinander auf dem Podest stehen. Die Bräute wirken sehr jung, kaum zwanzig. Auch der Priester selbst ist nicht viel älter. Vor dem Eheversprechen legt ein Diakon den Brautpaaren einen weissen Umhang mit silbernen Elementen um die Schultern und setzt ihnen eine weisse Stoffkrone auf. Jedes Paar hat drei männliche und drei weibliche Trauzeugen: Die Männer sind ganz in weiss, inklusive Tennis-Socken. Die Frauen tragen traditionelle gold-weisse Röcke mit farbigem Saum und sind barfuss. Die Menge klatscht und trillert, als die Paare verheiratet werden. Das Prozedere ist ähnlich dem einer katholischen Hochzeit, nur der Kuss fehlt. Auch sonst haben die Paare keinerlei Körperkontakt. “Es ist ganz normal, dass zwei Paare im selben Gottesdienst heiraten, es können auch mehr sein”, sagt Rahel. Dürfen ein Mann und eine Frau denn unverheiratet zusammen wohnen? “Nein, das ist ein eher heikles Thema bei uns”, sagt Rahel.
In der eritreisch-orthodoxen Kirche dürfen Pfarrer heiraten – damit ein Mann zum Priester geweiht werden kann, müsse er sogar vorher heiraten. Vor der Kirche vermählt sich parallel ein drittes Paar: Draussen, weil jemand von ihnen bereits geschieden ist, ein Kind hat oder die Braut schwanger ist. “Ja, ich weiss, das ist nicht gerade fortschrittlich. Unser Glaube basiert stark auf den zehn Geboten, man soll sündenfrei leben und dazu gehört auch, dass man sich nicht scheiden lässt oder unehelich Kinder hat”, sagt Adiam. Adiam kam im Alter von acht Jahren in die Schweiz und besucht den Gottesdienst nicht wegen sozialer Kontakte oder Heimat – sie könne sich nicht mehr so gut an die Zeit in Eritrea erinnern – sondern vor allem wegen ihrem Glauben.
In der Kirche läuft ein Priester durch die Reihen und bespritzt die Gläubigen mit Weihwasser, auch mich. Nach der Weihwasserdusche hält einer der Diakone die Predigt, völlig ohne Notizen und begleitet von einer lebhaften Gestik und Mimik. Ich erinnere mich an meine kurze Ministrantinnenkarriere, als mir während der Predigt des Pfarrers nach zwei Minuten das Gesicht einschlief, obwohl ich alles – zumindest auf Sprachebene – verstanden hatte.
Danach treten zwei Musiker mit riesigen Trommeln auf, die sie um die Schulter gehängt haben. Die Pfarrer und die Menge singen, klatschen und schwingen die Hände mit der Handfläche nach oben von links nach rechts. Der eine Trommler legt eine Tanzperformance hin. Der Priester richtet ein paar Grussworte an die Menge, lädt uns zum Essen ein und wir geleiten die Hochzeitspaare nach draussen. Jemand klopft mir auf die Schulter. Es ist Bereket, den ich einmal bei einer Bekannten kennengelernt habe. Ich hätte ihn nicht mehr erkannt, doch er strahlt mir entgegen: “Schön, bist du hier.” Er selbst komme an jeden Gottesdienst. Es bedeute ihm viel, auch hier in der Schweiz seinen Glauben weiterleben zu können. Religiöse Erziehung sei in Eritrea sehr wichtig, alle seien gläubig und ja, es sei auch einen Teil Heimat, den er hier wiederfindet.
Vor der Kirche ist ein Tisch aufgebaut. Es gibt “Injera”, ein weiches, leicht saures Fladenbrot mit Salat, Gemüse und verschiedenen Fleischsorten. Gegessen wird mit den Händen. Ich spreche mit Awet, der ein bisschen müde ist, weil er am Abend zuvor das Champions League Final geschaut habe. Er trägt ein grosses Kreuz um den Hals, seine Arme sind tätowiert: “Ich bin gläubig und bete viel”, aber der Glaube stehe für ihn nicht über allem. Ein junger Mann geht mit einem Abfallsack herum und sammelt die leeren Teller ein. Er kommt auf mich zu und sagt: “Hey, dich kenn ich doch, ich war vor sechs Monaten bei dir in der Klasse”, sagt Mussi. Der Gottesdienst sei sehr wichtig für ihn, um Leute zu treffen und seine Muttersprache nicht zu verlernen, scherzt er. Er ist Sänger im Chor, heute aber war neben der Hochzeit leider keine Zeit für ein Konzert. Ob er auch gerne Diakon wäre? “Ja, natürlich, aber dafür müsste ich sehr viel Zeit aufwenden und lernen”, sagt er. Zu viel für ihn.
Wir gehen zurück zur Tramhaltestelle. Im Tram sitze ich neben Aklilu, er ist 21 Jahre alt und vor vier Jahren alleine in die Schweiz gekommen. Seine Schwester wohnt in Altstetten, seine Eltern und die anderen Geschwister sind noch in Eritrea: “Ich habe fast keinen Kontakt zu ihnen, das Internet dort ist so schlecht”, sagt er. Wie es ihm geht in der Schweiz, will ich wissen. “Sehr gut, ich fühle mich sicher”, sagt er. Seit einer Woche hat er ein eigenes Zimmer: “Das ist super.” Am Hauptbahnhof verlassen wir gemeinsam das Tram: Awet, Berhane, Aklilu, zwei kleine Mädchen, Rahel, mein Freund und ich – sechs Eritreer und zwei Schweizer. Eine ältere Dame sagt zu ihrer Begleitung: “Hast du all die Afrikaner gesehen?”