Henry Rollins weiß nicht, was eine Depression ist

Foto: twofishoutofwater

Als ich ungefähr 16 Jahre alt war, haben meine engsten Freunde und ich einen eher ungewöhnlichen Deal geschlossen: Sollte sich jemals jemand von uns umbringen, würden die anderen kollektiv auf das Grab des „Quitters” pissen. Wir waren jung, wir waren testosteron-geladen und von der Teenage-Angst genervt, die Ende der 90er um uns herum schwirrte. Wir hatten keine Ahnung von psychischen Krankheiten. Wir wollten das nicht, und wahrscheinlich mussten wir das auch nicht. Mit der Zeit wurden wir aber älter, halbwegs erwachsen und zumindest ein bisschen weiser. Wir erkannten, dass die Welt nicht immer schwarz und weiß ist.

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Viele Menschen werden mit der Zeit klüger. Das gilt allerdings nicht zwingend für alle. Zum Beispiel Henry Rollins.

Der ehemalige Frontmann von Black Flag hat in seiner Kolumne für L.A. Weekly gestern ziemlich harte Worte zum Thema Suizid gefunden. Harte Worte sind ohnehin Rollins Ding: Im Internet kursieren etliche Inspirational Quotes von ihm. Man sollte auch nicht verschweigen, dass er seine Bekanntheit schon mehrfach für die Rechte von Homosexuellen oder eine bessere Versorgung von Veteranen eingesetzt hat.

Wenn man sich durch Rollins Interviews wühlt, zeichnen sie das Bild eines Menschen, bei dem persönliche Stärke alles ist. Ein Amerikaner durch und durch. Ein Individualist, ein Kämpfer, aber eben auch jemand, der denkt, dass dir eigentlich nichts im Weg steht außer du selbst. Wenn du versagst, hast du es wahrscheinlich einfach nur nicht hart genug gewollt. Straight edge halt. Bis jetzt war das immer irgendwie okay. Sein Text „Fuck you, Suicide” hat gestern aber ein ziemliches „Fuck You, Henry Rollins” ausgelöst.

Das ist nicht vollkommen fair. Man muss Rollins Text in seiner Gesamtheit sehen. Er bringt durchaus valide Punkte, auch wenn manche Zitate, die gestern die Runde machten, weitgehend einfach nur Arschloch-Talk sind: „I have many records, books and films featuring people who have taken their own lives, and I regard them all with a bit of disdain (…) Almost 40,000 people a year kill themselves in America, according to the Centers for Disease Control and Prevention. In my opinion, that is 40,000 people who blew it.”

Rollins Kernaussage ist: Wenn du Kinder hast, hast du nicht mehr das Recht einfach nach Belieben über dein Leben zu verfügen. Das mag als These einleuchten, zeigt aber auch, dass Rollins einfach keine Ahnung hat, was eine Depression ist. Im Grunde ist der Text eine konsequente Weiterführung seiner Thesen: Zieh dich selbst am Schopf hoch, Arschloch. Die Welt ist hart, also musst du härter sein. Der Schwache verdient kein Mitleid, sondern Verachtung, damit er seine Selbstheilungskräfte aktiviert. Doch hier liegt Rollins falsch. Er weiß ganz einfach nicht, was eine Depression ist.

Depression ist keine Stimmung, keine schlechte Laune, keine Charakterschwäche. Es ist eine Störung im Hormonhaushalt.

Die meisten Depressiven wissen im Kopf, dass es Hilfe und Hotlines gibt. Die meisten Depressiven wissen im Kopf, dass sie sich an Freunde oder Angehörige wenden sollen. Die meisten Depressiven wissen im Kopf, dass es in ihrem Leben auch Gutes gibt. Aber es dringt nicht durch. Depression heißt, die Welt durch ein Milchglas sehen. Morgens aufstehen und weinen zu wollen. (Wer das noch schöner beschrieben haben will, sollte diesen Text von Barbara Kaufmann lesen.) Natürlich ist die Intensität und der Verlauf von Krankheit und Heilung immer individuell. Aber allgemein fährt man ganz gut damit ,von Folgendem auszugehen: Stärke hilft nicht gegen Depression. Niemand kann sich selbst durch Willenskraft aus einer Depression ziehen. Wenn du das getan hast, hattest du keine Depression, sondern maximal leichte depressive Störungen.

Und das ist das wirkliche Problem an Rollins Aussagen. Solange Menschen wie er herumziehen und verkünden, Depressive seien einfach charakterschwache Menschen, die nur nicht stark genug seien, mit den Härten des Lebens umzugehen, wird diese Krankheit weiterhin tabuisiert werden.

Jonas ist mittlerweile Ende 20 und wird nie auf ein Grab pissen. Er ist froh, noch nie an einer ausgewachsenen Depression gelitten zu haben. Außerdem ist er auf Twitter: @L4ndvogt

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