Mit dem Wort “Braunau” assoziiere ich nicht automatisch “Hitler”. Ich assoziiere damit eher meinen Onkel, der dort als Betreuer von Menschen mit Behinderung arbeitet und meinen Cousin, der dort in die HTL gegangen ist. Beide wohnen nach wie vor in einem kleinen Kaff namens Polling, knapp außerhalb von Braunau. Ein Kaff, das so klein ist, dass man nach Braunau fahren muss, wenn man abends weggehen will. Ein Kaff, das so kaffig ist, dass man die Leute, die nicht Hofer gewählt haben, an einer Hand abzählen kann.
Mit Braunau assoziiere ich die Geschichten, die meine Mutter aus ihrer Kindheit erzählt. Wie sie dort aufgewachsen ist. Wie sie ihre Freizeit mit ihrer Freundin in einem Jugendzentrum verbracht hat. Wie sie im Frühling Eis essend draußen auf den breiten ebenerdigen Fensterbänken des Hauses mit der dreckigen, gelben Fassade gesessen sind. Das Haus, das besser bekannt ist als das “Hitlerhaus”. Weil dort zufällig vor über einem Jahrhundert Hitler geboren wurde. Natürlich steht an dem Haus nicht “Hitlerhaus”.
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Ab 1977 befand sich darin eine Einrichtung der Lebenshilfe, die dort bis zum Jahr 2011 ein Aufenthalts- und Betreuungszentrum für Jugendliche und Menschen mit Behinderung betrieb. Im Jahr 1978, ab dem meine Mutter dort das Jugendzentrum besuchte, war an dem Haus weder ein Schild, noch ein Schriftzug zu sehen, der darauf hindeutete, dass hier einmal ein deutscher Diktator geboren worden war. Deshalb waren die Nazis, die jedes Jahr am 20. April nach Braunau pilgerten, auch etwas verwirrt, als sie plötzlich vor einem Jugendzentrum-Schrägstrich-Behindertenbetreuungseinrichtung standen und wussten nicht, ob sie hier richtig waren. Also fragten sie meine Mutter, wo das Hitlerhaus sei.
Mit der Zeit fanden meine Mutter und ihre Freundin aber Gefallen daran, den Nazis zu erklären, dass sie hier völlig falsch seien.
Am Anfang zeigte meine Mutter noch auf die Fassade hinter sich. Und die Nazis drückten ihr fünf Mark in die Hand, legten einen Kranz vor dem Haus ab und machten ein paar Fotos von der Fassade. Mit der Zeit fanden meine Mutter und ihre Freundin aber Gefallen daran, den Nazis zu erklären, dass sie hier völlig falsch seien. Sie sagten:
“Nein, Sie müssen da nach hinten, bis zum Stadttor. Dann rechts die Treppe runter und immer gerade aus. Dann stehen Sie direkt vorm Hitlerhaus.” Die Nazis bedankten sich, drückten den Mädchen wieder jeweils fünf Mark in die Hand und folgten der Wegbeschreibung … und fanden sich vor der öffentlichen Toilette wieder. Und das war vielleicht überhaupt das Sinnvollste, was jemals jemand im Bezug auf die Naziproblematik in Braunau getan hat.
Heute wäre das nicht möglich, weil das Hitlerhaus dermaßen in den Medien ist, dass es jeder sofort erkennt. Es ist das gelbe Haus mit der Adresse Salzburger Vorstadt 15, mit einer Mahntafel auf einem Stein aus Mauthausner Granit davor. Die Mahntafel hätte ursprünglich, wie vom damaligen Bürgermeister Gerhard Skiba geplant, direkt an der Hausfassade angebracht werden sollen, doch die Hausbesitzerin Gerlinde Pommer wehrte sich dagegen. Gerlinde Pommer scheint sich sowieso grundsätzlich gegen jede Veränderung zu wehren. So auch gegen die Forderung der Lebenshilfe, Fahrstühle oder Rollstuhlrampen anzubauen, weshalb sie sich schließlich 2011 eine andere Bleibe suchen mussten.
Seitdem steht das Haus leer und ist wieder in den Mittelpunkt diverser Diskussionen gerückt. Vor kurzem hat die Regierung eine Gesetzesvorlage beschlossen, um die Besitzerin enteignen zu können und die Debatte flammte noch mehr auf. Projekte wie das “House of Responsibility” setzen sich engagiert für eine soziale Nutzung des Gebäudes ein, wohingegen andere Stimmen, darunter die des Innenministers Wolfgang Sobotka, einen sofortigen Abriss fordern.
Und Letzteres ist eine wirklich gefährliche Idee. Denn das Haus soll nur aus einem einzigen Grund abgerissen werden: Weil Hitler darin geboren wurde. Nicht, weil es baufällig wäre oder dergleichen, sondern ausschließlich, weil wir wissen, dass innerhalb dieser vier Wände vor über 100 Jahren ein inzwischen leider recht negativ konnotiertes Baby aus Klara Hitlers Vagina gekrochen ist.
Was Wolfgang Sobotka abreißen lassen will, ist nicht das denkmalgeschützte Biedermeierhaus, sondern das Symbol, für das es steht. Und das wäre eine Kapitulation vor den Nazis. Denn, nur weil ein paar Volltrottel sich bemüßigt fühlen, jeden Frühling nach Braunau zu pilgern und dieses Haus als Altar zu missbrauchen, sollte man es nicht gleich abreißen. Man reißt einen Spielplatz ja auch nicht ab, nur weil dort mit Drogen gedealt wird (sorry für den Nazi-Drogendealer-Vergleich).
Jedenfalls sind Verbot oder Auslöschung von Symbolen meistens völlig sinnlos. Denn rassistische Symbole finden sich immer wieder neue. Dass man den Hitlergruß verboten hat, hindert die Neonazis weder daran, sich gegenseitig zu begrüßen, noch Hitler zu huldigen. Wenn man das Hitler-Geburtshaus abreißt, nur weil ein paar Nazis es anbeten, identifiziert man das Gebäude dadurch ganz und gar mit Hitler. Er wird zum einzigen Merkmal des Hauses. Indem man es stattdessen aber umwidmet und in großen Lettern einen neuen Namen darauf schreibt—etwa den Namen einer Behindertenbetreuungseinrichtung—würde man das Haus damit neu taufen und entstigmatisieren.
Denn unser Denken wird grundlegend davon beeinflusst, welche Namen wir den Dingen geben. Und wenn man aufhören würde das Haus “Adolf-Hitler-Geburtshaus” zu nennen, würde es mit der Zeit auch aufhören das Adolf-Hitler-Geburtshaus zu sein. Was den Nazis in die Hände spielt ist diese ewige Mystifizierung von Nazi-Relikten und Nazi-Symbolen. Sobald aber Aufklärung stattfindet, verzieht sich dieser Nebel der Glorifizierung in der Regel recht schnell.
Man sollte das Haus nicht abreißen, sondern es nutzen, um Menschen mit Behinderung zu helfen, um Flüchtlinge unterzubringen oder allgemein etwas tun, um hilflosen oder verzweifelten Menschen Schutz und Perspektiven zu geben.
Seit Mein Kampf in Neuauflage erschienen ist, ist dieses Buch (nicht nur für Nazis) um einiges weniger interessant geworden. Eben, weil es nun keine sagenumwobene Schrift mehr ist, sondern schlicht ein überteuertes, mit kritischen Fußnoten überladenes Sammelsurium an kruden, paranoiden Verschwörungstheorie-Thesen, wie man sie auch in jedem x-beliebigem Buch aus dem Kopp-Verlag finden kann. Und durch das beträchtliche Gewicht der Neuausgabe (5,4 kg), eignet es sich nicht einmal mehr als symbolisches Buch, das man mit sich herumträgt ohne es überhaupt gelesen zu haben (wie zum Beispiel bei anderen fundamentalistischen Propagandawerken, wie der Mao-Bibel oder der Bibel).
Durch Entmystifizierung entzieht man den Nazis den Boden. Durch Bildung, Aufklärung und Aufarbeitung kann man Faschismus vorbeugen—und nicht durch Verdrängung. Man sollte das Haus nicht abreißen, sondern es nutzen, um Menschen mit Behinderung zu helfen, um Flüchtlinge unterzubringen oder allgemein etwas tun, um hilflosen oder verzweifelten Menschen Schutz und Perspektiven zu geben. Man sollte das Gebäude einfach für alle Tätigkeiten verwenden, die Hitler verabscheut hätte. Und man sollte es in großen, bunten Lettern auf die Fassade schreiben—klar machen, dass das hier ein Ort der Vielfalt und des Friedens ist.
Indem man das hässliche, gelbe Haus in der Salzburger Vorstadt 15 für sinnvolle, soziale Aktivitäten nutzt, wird es wieder zu dem, was es eigentlich ist: ein hässliches, gelbes Haus. Und für den Fall, dass trotzdem immer noch Nazis anpilgern, stellt man einfach einen Bodyguard vor die Tür, der die Anweisung hat, ihnen folgende Wegbeschreibung zu geben: “Die Straße entlang bis zum Stadttor, dann rechts die Treppe hinunter und immer gerade aus.”