Vom Vollzeit-Junkie zum YouTube-Star: Die Geschichte von $ick

Eine der besten Erzählungen der deutschen Gegenwart fängt mit “Was soll ich sagen?” an. Mit diesen Worten eröffnete der Ex-Drogenabhängige mit dem Künstlernamen “$ick” am 12. Dezember 2012 die erste Folge der YouTube-Serie Shore, Stein, Papier. Als er 380 Folgen und fast drei Jahre später aufhörte, war seine heroingetränkte Lebensgeschichte längst zur Sensation geworden: Die erste Folge haben mittlerweile über eine Million Zuschauer gesehen, insgesamt kommen die Folgen auf einige Millionen Klicks.

Sick erzählt von seinem 18. Geburtstag, den er mit Pennern im Bahnhofsklo verbrachte, von seinen zahlreichen Einbrüchen, und davon, dass er mit anderen Insassen den Kaffee der Gefängniswärter mit LSD versetzt hat. Das Besondere ist aber eher die Art, wie er es erzählt: direkt, ohne Umschweife, oft ziemlich witzig und immer ursympathisch. Dieser Typ hat es geschafft, seine Beobachtungsgabe, seine beeindruckende emotionale Intelligenz und vor allem sein Gedächtnis trotz 25 Jahren “Faxen machen” intakt zu halten. Und das unterscheidet Sicks Erzählungen von anderen Junkie-Memoiren.

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Das alles hat der mittlerweile 43-Jährige jetzt noch einmal in Buchform aufgeschrieben. Das Buch ist am Dienstag erschienen. Grund genug, sich mit ihm noch einmal über die legendäre YouTube-Serie, schießwütige Italienerinnen und Koks-Exzesse in Hamburger Puffs zu unterhalten. Und über Gefühle.

VICE: Mit das Spannendste, das ich aus deiner Show gelernt habe: wie viel Geld man als Junkie jeden Tag braucht. Zu deinen Hochzeiten hast du enorm viel umgesetzt, oder?
$ick: Ja, da kommt schon was rum. Ich erinnere mich an ein Jahr, da habe ich zwölf- oder fünfzehnmal die Schmuckabteilung eines großen Kaufhauses ausgeräumt. Wenn du jedes Mal mit zwei Müllsäcken oder großen Sporttaschen voll mit Gold, Ringen und Armbändern flüchtest—da kommt schon Geld zusammen.

In der Koks-Phase hatte ich Tage, wo ich 30.000 oder 40.000 Mark in der Tasche hatte. Da bin ich losgezogen und habe Leuten Hunderter bezahlt, wenn sie fünfzig wollten. Ich bin da auch ein bisschen behindert gewesen. Ich hab’ mir keine Sorgen gemacht, ich hatte in meiner richtig üblen Suchti-Phase gar keinen Bezug zu Geld, ich hab nur in Päckchen und Beuteln gerechnet. Da fährst du auch mal mit drei Kumpels von Hannover nach Hamburg in den Puff und lässt den Taxifahrer drei Tage vor der Tür stehen, während du dir im Hinterzimmer die Rübe mit Koks zuziehst. Das hätte ich genauso auch zu Hause machen können, aber gut. Heute geh ich ganz anders mit Geld um.

Man bekommt oft den Eindruck, als hättest du bei den ganzen Einbrüchen vor allem Spaß am Handwerk gehabt.
[Lacht] Ja, also wenn was funktioniert, macht das schon Bock. Und wenn ich drauf bin und Geld verdienen will, dann muss ich ja besser werden. Bei jeder Nummer muss ich was lernen, sonst bin ich bald weg vom Fenster.

Aber auf Dauer kann man dem eh nicht entkommen. Das geht, wenn du das nüchtern machst, und nur nach Bedarf alle paar Wochen, wenn du wirklich dringend Geld brauchst. Aber wenn du jede Nacht oder alle paar Nächte losziehen musst, dann kriegen sie dich früher oder später.

Über die Jahre hast du ja einiges an Einbrüchen, Zeiten im Knast und Drogendeals angehäuft. Hattest du am Ende einen Ruf auf der Straße?
Ach Quatsch! Mit so Sachen wie Kaufhauseinbrüchen holst du dir keinen Ruf. Das geht bei anderen Dingern los: Wenn du ein guter Tresorknacker oder so bist, dann hast du einen Ruf. Der beschränkt sich aber auf wenige Leute, die das wissen—und das ist ja auch gut so. Das Einzige, was mir meine Aktionen je eingebracht haben, war der Spitzname “Hebel-Maestro”. Weil ich Türen mit dem Eisen aufgehebelt habe wie kein Zweiter. Das hielt sich ungefähr zwei Jahre, dann haben die Geschäfte in Hannover ihre Türen geändert, und mein Spitzname war weg.

Wenn man sich deine Videos anschaut, siehst du immer noch erstaunlich gut aus. Wie hast du das alles eigentlich überlebt?
Ich hab von der Optik vielleicht einfach Glück, ich sah immer jünger aus, als ich bin. Außerdem pflege ich mich, so gut es geht. Auch wenn ich total am Ende bin, versuche ich trotzdem immer noch, einen gewissen Grundsatz an Hygiene einzuhalten. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich damit in meiner Koks-Phase öfter mal versagt habe [Lacht]. Da habe ich mich dann auch mal erst nach vier Tagen irgendwo unter ‘ne Wasserquelle geschleppt.

Hast du also überhaupt keine Schäden davongetragen?
Was das Geistige angeht, würde ich das jetzt mal verneinen. Ich weiß ja nicht, wie es ohne wäre—vielleicht wäre ich ein bisschen schlauer. Aber durch das Elend, das ich mir angetan habe, habe ich mir auch Wissen angeeignet. Körperlich habe ich nur ziemlich schwere Rückenprobleme bekommen, aber das hat wahrscheinlich auch psychische Hintergründe, das geht weg.

Was Shore, Stein, Papier so besonders macht, ist vor allem die Art, wie du deine Geschichten erzählst. Hast du schon immer gerne andere unterhalten?
Nein, dieses Reden ist ganz neu für mich. Ich habe erst vor Kurzem angefangen, meinem jetzigem Chef ein paar Geschichten zu erzählen. Der war irgendwie begeistert und hat gesagt, ich soll das doch mal alles aufschreiben. Also habe ich—noch voll von Methadon und anderem Zeug—angefangen, ein paar Geschichten in einem Blog aufzuschreiben. Und irgendwann hat er gefragt, ob ich die Sachen nicht vor der Kamera erzählen will.

Hättest du je damit gerechnet, dass das so ein Erfolg wird?
Nie! Ich dachte, das interessiert kein Schwein. Weil ich mein ganzes Leben das Gefühl hatte: Keine Sau interessiert, was du machst oder was mit dir passiert. Ich habe nur mitgemacht, weil das meine Kollegen sind und ich sonst nichts zu tun hatte. Das hat mich überrascht, als gleich am Anfang so viele Klicks kamen. Jetzt schauen Leute das manchmal sogar mehrmals. Ich habe neulich jemanden getroffen, der hat mir erzählt, er sei bei Folge 350—zum fünften Mal! Ich meinte zu dem: “Sag mal, bist du arbeitslos?” War er dann auch.

Hat dir schonmal jemand gesagt, dass er die Show nicht cool findet?
Ich habe noch keinen getroffen, der gesagt hat, dass er es voll scheiße findet. Aber das macht ja auch keiner, oder? Ich denke, das werden viele Leute blöd, komisch oder unangebracht finden. Aber vielen gefällt’s. Auch die Normalos, die nichts mit Drogen oder Kriminalität zu tun haben, erkennen sich in den Emotionen wieder.

War das manchmal schwer für dich, das alles zu erzählen?
Über die Koks-Phase zu reden, war am schwierigsten. Damals habe ich das Zeug geballert und bin daran kaputt gegangen. Das hatte ich alles 15 Jahre erfolgreich verdrängt. Jetzt wurde ich plötzlich genötigt, das in allen Einzelheiten zu erzählen.

Als ich die Staffel über die Koks-Phase abgedreht hatte, bin ich einen Monat in ein Kaff am Arsch der Welt in Griechenland geflogen. Da hatte ich Platz für meine Depression. Ich bin eines Tages aufgestanden und habe nur noch geheult, bis ich nach Hause geflogen bin. Auch zu Hause habe ich noch Wochen von morgens bis abends nur geheult. Es war auch irgendwie ein reinigender Prozess. Trotzdem hat es dann erstmal drei Monate gedauert, bis ich die nächste Folge drehen konnte.

Wie war es dann für dich, das Buch zu schreiben?
Da musste ich mich nochmal ganz alleine mit mir und der Geschichte auseinandersetzen. Da habe ich für das Koks-Kapitel auch wieder dreimal so lange gebraucht wie für die anderen. Schreib erstmal in schönen Worten und grammatikalisch richtigen Sätzen, wie scheiße es dir geht, wie du überall blutest und nicht genug Kilos auf den Rippen hast! Voll anstrengend—vor allem wenn du weißt, das war dein eigener Körper, dein eigener Arsch, der da kaputt gegangen ist.

War es schwer, ein normales Leben zu führen, nachdem du mit den Drogen aufgehört hattest?
Na ja, so plötzlich ging es ja nicht. Ich habe am Anfang noch ziemlich viel gekifft und getrunken, auch während der Aufnahmen zur Serie.

Hattest du seitdem schonmal einen normalen Job?
Ne, ich geh’ nicht arbeiten, hab’ ich immer gesagt. Ich geh’ doch keine Halle fegen oder so, das deprimiert mich zu sehr. Da werde ich sofort rückfällig, wenn ich nur daran denke, arbeiten zu müssen, um Geld zu verdienen. Bis zum Anfang der Serie habe ich Gras verkauft.

Vermisst du irgendwas an deinem alten Leben?
Die Leute zum Teil.

Haben die Videos dazu geführt, dass Leute aus der Zeit dich wieder kontaktiert haben?
Ja, ich habe einige dadurch wiedergefunden. Der Sohn von einer der italienischen Schwestern hat mich dadurch gefunden, der hat seine Mutter aus der Beschreibung wiedererkannt! Jetzt war ich schon ein paarmal bei denen in München.

Ist das die Frau, die den Dealern mit der Gaspistole ins Gesicht geschossen und sie dann ausgeraubt hat?
Ja, das war die eine von denen [Lacht]. Aber wenn du die in echt siehst, würdest du das nicht glauben. Die ist jetzt ‘ne hübsche Frau, der traust du Fingernägelmachen und Schuhekaufen zu, aber nicht das!

Weißt du, was aus einigen der anderen geworden ist?
Ja. Patatas ist jetzt gerade erst wieder aus der Entgiftung gekommen. Der Ägypter, der Dekra und der Stille sitzen gerade wieder. Die sitzen alle zwei Jahre mal für ein Jahr. Bei denen ist es nach 25 Jahren noch nicht vorbei, die gehen Einbrechen oder sonstwas machen. Was willst du denn auch machen, wenn du so lange so gelebt hast? Die macht auch nichts zufrieden. Das Geld, was die mit einer normalen Arbeit verdienen könnten, langt ja auch nicht. Das ist ein gutes Wochenende für die. Die Jungs haben heute noch einen Verbrauch von mindestens drei- bis sechstausend Euro im Monat. Und am Ende des Monats ist das einfach weg: für Koks, Shore, Gras, gute Klamotten, egal. Da hat sich gar nichts geändert.

Was hältst du von der Drogenpolitik in Deutschland?
Die läuft ganz schön beschissen. Da bedarf es dringend einer Erneuerung. Auf jeden Fall, was Cannabis angeht. Im Jahr werden Milliarden Euro für die Verfolgung von Cannabis-Delikten rausgekloppt, aber die wenigsten der Angezeigten landen im Endeffekt im Knast. Die anderen sind nur kriminalisierte Kiffer, die normal arbeiten gehen. Wo ist da der Sinn?

Der illegale Heroinhandel und Kokain sollten weiter unter Verfolgung stehen. Aber man kann Leute von der Straße holen, indem man ihnen sauberen Stoff aus dem Medikamentenschrank gibt. Heroinabhängige sind häufig depressiv, die haben in Heroin nur ihr Medikament gefunden. Methadon hilft nicht weiter. Ich würde synthetisches, sauberes Heroin an Schmerzpatienten abgeben. Die Leute erholen sich innerhalb von zwei oder drei Monaten. Egal wie kaputt der vorher aussah, nach drei Monaten auf reinem Stoff geht der wieder zehn Stunden am Tag arbeiten. Auf Heroin bist du ja auch brutal belastbar, du kannst arbeiten wie ein Tier.

Du hast es nicht nur aus der Sucht geschafft, du veröffentlichst jetzt sogar ein Buch. Bist du optimistisch, was deine Zukunft angeht?
Ich habe Glück gehabt, weil die Leute mir aus irgendeinem Grund gerne zuhören. Daran halte ich jetzt fest. Weil das definitiv mehr Geld bringt, als Gras zu verkaufen, und es weniger stressig ist.

Ansonsten bin ich froh, dass ich meine Ruhe habe. Ich will auch meinen eigenen Garten haben und mich da buckelig morgens um sieben reinstellen und Blumen betüddeln. Das hab ich vor wenigen Jahren noch als total sinnlos belächelt. Ich freue mich richtig aufs Spießigwerden, Mann!