Angelockt vom Bierdurst, dem Anblick dicker Mädchen—die sich in enge Mieder pressen, damit ihre schwabbeligen Brüste noch größer wirken—, fescher Burschen, die definitiv zu viel Bein zeigen, und der Aussicht, nach drei Maß Bier noch mit dem Fünferlooping fahren zu können, werden jedes Jahr fast sieben Millionen Menschen in die Hochstadt des Bieres und zum Olymp der Saufgötter geführt. Wenn du dieses Jahr einer von ihnen bist und die Wiesn richtig angehen willst, dann solltest du dich an unseren VICE-Guide zum Oktoberfest halten:
Das Oktoberfest ist eine zweischneidige Angelegenheit
Ersteinmal solltest du der Realität ins Auge schauen: Das Oktoberfest besteht aus zwei Welten, die sich in keiner Weise auch nur ein bisschen gleichen. Es gibt eine freudige Jahrmarktswelt voller Luftballons, Achterbahnen und strahlender Kindergesichter. Zu dieser Seite der Medaille gehört auch das glamouröse Promitreffen, die perfekten Frauen, die braungebrannten, lächelnden Bedienungen und die gute Stimmung durch und durch. Alle sind fröhlich, schunkeln und sind nie so besoffen, dass es irgendwie unangenehm wäre.
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Das Oktoberfest hat aber auch eine dreckige Seite, welche du als normaler Wiesn-Besucher wahrscheinlich eher kennenlernen wirst.
Es sind die bierüberschwemmten Tische, die in überhitzten Zelten stehen und an denen, dicht gedrängt, Menschen ihre fettigen Leiber aneinanderreiben, während sie mit ihren Händen Brezeln in Käsemasse tunken und bitteren Gerstensaft in sich hineinkippen, bis beides ihren Körper auf selbiger Route wieder verlässt.
Manchmal sogar zurück in den Maßkrug—als Notlösung, weil die Schlange am Klo zu Stoßzeiten unendlich lang ist und das Zelt so vollgestopft ist, dass allein der Weg dahin schon eine Qual darstellt.
Es ist auch schon vorgekommen, dass jemand aus Versehen Pisse statt Bier getrunken hat, weil derjenige im Vollsuff nach dem falschen Krug gegriffen hat.
Ins Zelt zu kommen, ist schwieriger, als man glaubt. Zwischen diesen Welten befindet sich eine Wand aus Türstehern, die für den Bayer eine ähnlich kulturelle Bedeutung hat wie die Mauer für den Berliner. Dabei sind die besten Türsteher unter ihnen Norddeutsche. Sogar einen Berliner habe ich schon erlebt. Vielleicht weil sie dem Zauber der prallbusigen Bayerinnen, die versuchen, ohne Reservierung doch noch rein zu kommen, tapfer standhalten können.
Lippenherpes
Wie auch beim Karneval in Köln ist Lippenherpes die Wiesn-Krankheit Nummer Eins. Jeder Apotheker wird dir sagen, dass Zovirax in dieser Zeit verkauft wird wie warme Semmeln. Hier knutscht jeder mit jedem, und jeder Bayer weiß, Wiesn-Zeit ist Ausnahmezustand. Glaub nicht, dass du hier deine große Liebe finden wirst.
Tracht
Lederhose und Dirndl sind Pflicht für jeden Bayer. Wenn du aus einem nicht aus Bayern und nicht aus Österreich bist, dann trag keine Tracht. Das ist peinlich, möchtegern, und die Wahrscheinlichkeit, dass du eine der kommerziellen, hässlichen Trachten erwischt, weil du dich damit nicht auskennst, ist relativ groß. Auch von den grauen Filzhüten, wie sie Tausende von Larifari-Touris noch eben schnell auf dem Weg zum Oktoberfest kaufen, solltest du die Finger lassen. Spar dein Geld lieber für das überteuerte Bier und geh in Jeans und T-Shirt. Aufgedruckte Lederhosen oder dämliche Saufsprüche sind nur etwas für sturzbetrunkene, peinliche Amerikaner.
Dirndl
Das Dirndl ist das einzige Kleidungsstück auf der Welt, in dem jede Frau so aussieht, als hätte sie eine schlanke Taille und große Möpse. Aber wie gesagt, als Nicht-Bayerin oder Nicht-Österreicherin lass die Finger davon. Eine Sache solltest du als Mann noch wissen—wie die Schleife beim Dirndl gebunden ist, sagt einiges über die Frau aus: Links getragen bedeutet, dass sie zu haben ist. Ist die Schleife rechts, hat sie einen Freund/Ehemann. Vorne in der Mitte: Sie ist noch Jungfrau.
Lederhosen
Seit über 200 Jahren ist man sich einig: Die kurze Lederhose kombiniert man mit langen Kniestrümpfen. Bitte trag keine Landhausmode, außer du bist so einer, der seine Freunde auf Kaffee und Kuchen im Rischart oder Käfer-Zelt trifft. Wasche deine Lederhose nie. Erst wenn sie richtig speckig ist, nach Bier stinkt und im Schritt noch verkrustete Flecken vom süßen Senf von vor fünf Jahren zu erkennen sind—dann sitzt sie perfekt.
Fahrgeschäfte
Kein echter Bayer geht auf die Wiesn, um die überteuerten Fahrgeschäfte zu benutzen. Vielleicht geht er mal zum Schießstand, aber das ist auch das höchste der Gefühle. Dein Weg sollte dich lieber umgehend ins Bierzelt führen, schon alleine deswegen, weil die Zelte wegen Überfüllung am Wochenende teilweise schon um 10 Uhr morgens schließen.
Aber für die Touris unter euch hier ein paar Tipps: Das Teufelsrad: Hierbei handelt es sich um ein Zelt, in dessen Mitte sich eine horizontal Scheibe dreht. Du wirst mit Sicherheit daran scheitern, darauf sitzen zu bleiben. Die Scheibe dreht sich immer schneller und wird vom Moderator mit einem Strohsack an einem Pendel malträtiert, der dich gleichzeitig ordentlich in bayerischer Mundart „dableckt “ (nette Beleidigungen)—bis du herunter fällst. Beim „Schichtl“ kannst du dich live auf der Bühne von einer Guillotine enthaupten lassen, während ein illustrer Bayer in Offiziersuniform dabei ruft: „Auf geht’s beim Schichtl!“.
Einen Tisch reservieren
Ohne Reservierung bist du ein Wiesn-Gänger zweiter Klasse. Du bist entweder ein Drängler, der verzweifelt um Einlass bettelt, oder einer dieser Menschen, deren krönender Abschluss ihres Wiesn-Besuches eine Fahrt mit der Wildwasserbahn darstellt.
Wenn du dir diese Schmach ersparen willst, kannst du dich um eine Reservierung bemühen. Bestellt wird der Tisch direkt bei der entsprechenden Brauerei des jeweiligen Zeltes. Bei einer durchschnittlichen Biergarnitur, die für zehn Personen ausgelegt ist, musst du zwischen 300 und 800 Euro hinblättern.
Es gibt drei Zeiten, zu denen du reservieren kannst: mittags, nachmittags oder abends. In beliebten Zelten und abends kostet es natürlich am meisten. Reservierungen werden zuerst an Gäste aus dem Vorjahr vergeben, die den gleichen Tisch zur gleichen Uhrzeit nochmal reservieren wollen. Wenn dann das Wunschkonzert der Platzhirsche vorbei ist, kannst du mit den anderen Touristen den Rest unter euch aufteilen. Eine kurzfristige Reservierung, vor allem abends, gibt es jetzt auch auf eBay zu ersteigern—wenn du das nötige Kleingeld hast.
Ins Zelt kommen
Während du 2008 noch im Zelt den Namen von einer Reservierungskarte am Tisch ablesen und ihn deinem Freund per SMS zuschicken konntest, damit dieser sich am Reservierungseingang mit den dreisten Worten „Hans Huber, Parteivorsitzender der Jungen Union–Reservierung auf Stegelmann“ Zutritt verschaffen konnte, ist es heute im Zeitalter der Reservierungsarmbändchen unmöglich geworden, sich mit fremder Reservierung ins Zelt zu schleichen.
Wenn deine Freunde heute vor der Tür stehen, während du schon drinnen bist, ist es deine einzige Chance, ein Mädchen zu sein und mit einem der alten Knacker aus den Reservierungsboxen zu flirten und zu hoffen, dass er noch ein Armband übrig hat.
Ansonsten besteht natürlich die Möglichkeit, einen Ocean’s Eleven-würdigen, sekundengenauen Heist durchzuführen, bei dem du deine Freunde durch den Notausgang reinschleust. Die gefährlichsten Gegner sind dabei nicht nur die Türsteher, sondern auch die alteingesessenen Grantelbayern, die den Notausgang neben der Reservierungsbox mit ihrem Leben verteidigen.
Als letzte Möglichkeit bleibt dir immer: Seiteneingang suchen, anstehen und schieben. Irgendwann kommst auch du da auch rein, du brauchst Ausdauer und spitze Schulterblätter.
Aloisius
Ist der berühmte Engel aus Ein Bayer im Himmel vom legendären Satiriker Ludwig Thomas, der eigentlich der bayerischen Regierung die Erleuchtung bringen sollte, dann aber noch schnell im Hofbräuhaus einkehrte und es nie wieder verließ. Auf dem Oktoberfest findest du Aloisius im Hofbräu-Zelt, wo er unter der Decke hängt und traurig sein „Hosianna Kruzifix!“ singt. Das Hofbräu-Zelt ist mit 10.000 Sitzplätzen das größte Festzelt auf dem Oktoberfest und aufgrund seines Namens die erste Anlaufstelle für Touristen. Lass dir Aloisius‘ Leben eine Lehre sein und verlasse ein Bierzelt nie. Solltest du es einmal nach drinnen geschafft haben, verlass es nicht mehr bis Zeltschließung.
Bier trinken
Zentrales Problem bleibt aber weiterhin: Wer keinen Sitzplatz hat, dem wird kein Bier verkauft. Früher konnte man noch ruhig in den Gängen stehen und seine Maß trinken, doch seit Feuerschutzrichtlinien auch auf dem Oktoberfest gelten, geht das nicht mehr. Die Gänge bleiben frei, und noch mehr Leute vor der Tür. Nach ein paar Jahren Null-Toleranz wird das Ganze jetzt wieder etwas lockerer gehandhabt.
Dein erster Anlauf, an Sitzplätze zu kommen, sollte sich an die Bedienung richten. Die weiß meistens am besten, wo noch ein paar Leute zamrücken können, um den Umsatz zu steigern. Hast du damit keinen Erfolg, bleibt nur eine Möglichkeit: Du überzeugst irgendjemanden mit dem vorgetäuschten Versprechen, sofort wieder zu gehen, dass du dich kurz zum Bestellen an seinen Tisch setzten kannst. Schick am besten deine hübscheste Freundin vor. Hat er oder sie erst das Vertrauen gewonnen und das erste Bier bestellt, sollte die Annexion des Tisches der nächste Schritt sein.
Die meisten Leute sind oft schon zu betrunken, um diesen schleichenden Prozess zu bemerken. So können du und deine Freunde den Tisch nach und nach unter eure Kontrolle bringen. Auch hier ist Durchhaltevermögen viel wert.
Die Bedienung
Sie ist resolut, grantig und kann bis zu 18 Maßkrüge stemmen, weshalb du dich auch nicht mit ihr anlegen solltest. Sie ist dein einziger Weg zum güldenen Gerstensaft. Egal, was du tust, verärgere sie nicht und gib ihr bei der ersten Bestellung ein ordentliches Trinkgeld.
Betrunken sein
Das Maß kostet dich 10 Euro (eigentlich zwischen 9,40 und 9,85, aber denk erst gar nicht daran, die Bedienung darum zu bitten, die 15 bis 60 Cent rauszurücken)—aber kleiner Trost: Das Wiesn-Bier ist stärker als normales Bier.
Hast du es dann geschafft, auf dem Oktoberfest betrunken zu sein, musst du auf der Bank stehen, schunkeln und versuchen, jedes Lied mitzusingen, egal ob du den Text kannst oder nicht. Das gilt auch für den Bayrischen Defiliermarsch.
Solltest du aber versuchen, auf den Tisch zu steigen, wirst du unverzüglich von der Security erst ermahnt und dann aus dem Zelt begleitet. Es handelt sich hierbei um eine Sicherheitsmaßnahme: Die Bänke fallen ständig samt tanzender Trinksportler um.
Schnupftabak
Ist ein weißes oder braunes Pulver, das resolute Bayern als Substitution für Koks schnupfen, um beim Trinksport bis zur letzten Runde durchzuhalten. Diese Mischung aus Tabak und Aromen (braun) oder Traubenzucker und Menthol (weiß) trägst du in kleinen blauen Döschen in der Hemdtasche. Natürlich gibt es auch genug Leute, die so unauffällig Koks mitten in der Menge schnupfen, das ist aber eher eine neureiche, preußische Methode, die dem wahren Bayer zur Wiesn-Zeit im Zelt missfällt.
Völkerverständigung
Das Oktoberfest ist ein Ort, an dem selbst in Bayern die Fremdenfeindlichkeit keinen Platz hat. Verrückte Japaner opfern ihren Jahresurlaub, um sich mit dir bis in die Besinnungslosigkeit zu trinken. Amerikaner fühlen sich bestätigt, dass wirklich alle Deutschen Lederhose tragen und nur Bier trinken.
Das zweite Wochenende heißt auch „Italienerwochenende“, an dem ganze Horden von Italienern in Campingwagen über die Alpen angereist kommen und rund um die Theresienwiese (wo das Oktoberfest stattfindet) ihr Camp aufschlagen. Wenn du gegen 23 Uhr aus dem Zelt geworfen wirst und hungrig den Weg in die Clubs antrittst, kochen sie Pasta in ihren Wohnwagen, und wer nett fragt, bekommt auch mal was davon ab. Das Oktoberfest ist der endgültige Gleichmacher zwischen den Völkern.
Wiesn-Hit
Das Oktoberfest ist der einzige Grund, warum DJ Ötzi noch immer im Musikbusiness ist und davon leben kann, nur drei Wochen im Jahr öffentlich gespielt zu werden.
„Ein Prosit!“
Es gibt eine musikalische Grundkonstante, die das Oktoberfest zusammenhält. Es ist der auf die Minute genau viertelstündlich rezitierte Psalm-Spruch des Trinkers: „Ein Prosit, ein Prosit, der Gemütlichkeit, eins, zwei, gsuffa!“ Das systematische Massenbesäufnis auf dem Oktoberfest ist durch dieses Gebet bereits institutionalisiert worden.
Daraufhin muss sich der Gerstensaft befehlsartig als Sturzbach in den Mund ergießen. Wenn du an dieser Stelle vergisst zu trinken, lässt der Urbayer vom Nachbartisch garantiert den Watschenbaum umfallen—heißt: Er kommt rüber und verpasst dir eine, weil du die Bräuche der indigenen Bevölkerung beleidigt hast. Möchtest du dem Volk der Baiuvaren deine Ehrerbietung zollen, kannst du jetzt auf den Tisch steigen und versuchen, deinen Maßkrug in einem Zug zu leeren. Dann wirst du angefeuert und sogar die Musiker machen Pause für dich.
Der Hügel der verlorenen Menschenwürde
Die Bavaria ist 18,52 Meter hoch, besteht aus Bronze und wacht als Schutzpatronin der Bayern über die Theresienwiese und das Oktoberfest. Zu ihren Füßen liegt der Hügel der verlorenen Menschenwürde, weshalb sie aus Gründen des Anstandes ihren Blick stets zum weißblauen Himmel gerichtet hat.
Am Promillehügel, wie er auch genannt wird, finden sich ab der Mittagszeit die ersten Betrunken ein, um entweder ihren Rausch auszukurieren oder um ein kurzes Nickerchen zu halten, damit sie um 16 Uhr wieder durchstarten können (falls sie dann wieder ins Zelt kommen—denk dran: Wenn du einmal im Zelt bist, verlass es nie wieder).
Übrigens, das ganze Areal, inklusive der Anhöhe mit der Bavaria, wird videoüberwacht. Allein im Jahr 2012 gab es laut Polizeistatistik vier offiziell registrierte Vergewaltigungen und 13 andere Sexualstraftaten auf dem Oktoberfest. Solltest du als Frau in solch eine Lage kommen oder einen Blackout haben, weil dir jemand KO-Tropfen ins Bier getan hat, ist deine beste Anlaufstelle die „Sichere Wiesn für Mädchen und Frauen“ am Security-Point. Das Gebäude befindet sich direkt gegenüber des besagten Hügels.
Zurück nach Hause (Wieder dahoam)
In Bayern ist man weltoffen. Man mag Fremde, Ausländer und zur Wiesn-Zeit auch die depperten Saupreißen—aber nur so lange sie auch alle wieder nach Hause fahren. Nach gut drei Wochen kehrt wieder Ruhe in München ein. Nachdem in dieser Zeit die Krankmeldungsrate über ein volkswirtschaftlich erträgliches Maß angestiegen ist, stellt sich in Bayern die kleinbürgerliche Normalität wieder her. Aber in München zählt man bereits die Tage, bis der Oberbürgermeister wieder sagt: „O’zapft is!“