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„Es sind nur 25 Minuten mit der Bahn.” Wenn das deine Reaktion auf meine Frage ist, wie weit du von deiner Arbeit entfernt wohnst, dann tut es mir Leid dir das hier mitteilen zu müssen: Aber das ist keine angemessene Antwort. Die gekonnte Ignoranz der Maßeinheit Entfernung ist immerhin eine ziemich typische Reaktion, und zeigt an, wie weit du von der Realität entfernt bist. Gerne wird zur weiteren Verschleierung noch hinzugefügt, dass es „nicht so weit” ist.
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Die miserable Art und Weise Wege zu beschreiben ist allerdings vermutlich nur das Resultat deines Daseins als Fahrgast. Eine neue Studie belegt, dass Autofahrer, Fußgänger und Fahrradfahrer wesentlich bessere Wegbeschreibungen liefern als Leute, die mit der Bahn fahren. Die Studie mit dem schönen Titel „Going Mental” (Durchdrehen) wurde in Urban Planning veröffentlicht und zeigt, dass kognitiv aktive Autofahrer oder Fußgänger, die passiven Bahnfahrer in ihrer Fähigkeiten zur Wahrnehmung von Entfernungen übertreffen. Eine statistische Erhebung der Leistungen von kognitiv aktiven, passiven und gemischten Reisenden belegte die Differenzen im Verständnis von Distanzen, und zeigte dass kognitiv aktive Reisende Straßennamen öfter in Wegbeschreibungen einbeziehen.
Die Reisenden aus der Gruppe der Nutzer gemischter Fortbewegungsmitteln fielen mit ihrem Verständnis von Entfernung in den Mitte des statistischen Spektrums. Es scheint offensichtlich, dass Autofahrer, Fußgänger und Fahrradfahrer ein besseres Verständnis von Entfernung haben und demzufolge bessere Wegbeschreibungen geben können, nicht wahr?
Unsere Wahrnehmung von räumlicher Realität ist auf unterschiedliche Elemente zur Entwicklung von zuverlässiger Erinnerung angewiesen: Sehenswürdigkeiten, Straßenschilder, Knoten, Schnittpunkte, Menschen, die wir auf dem Weg sehen. Bahnfahrer haben hingegen mehr Möglichkeiten sich aktiv mit anderen Dingen zu beschäftigen und abzulenken—wie zum Beispiel Zeitung Lesen.
Könnte ein vermehrtes Nutzen von Navigationssystemen, Mobiltelefonen und digitalen Warnsystemen in der modernen Welt des Kartenlesens 2.0, der Neogeographie und des Lebens mit einer Augmented Reality schädlich sein für das Verständnis eines Autofahrers für Entfernungen und Wegbeschreibungen? Die Theorie des Autors:
„Möglicherweise gibt es Kompromisse zwischen den kurzfristigen Vorteilen der Smartphone-Navigation und langfristigen Defiziten für das räumliche Wissen. Dennoch haben wir kognitive Kartierungen und räumliches Wissen bisher aus Gründen der Zugänglichkeit noch nicht in unserer Analyse von Reiseverhalten und Reiseplanung mit einbezogen.”
In ihrer Zusammenfassung bieten die Autoren das Beispiel der Londoner Taxifahrer an, der aufgrund seines großen Wissens um das komplizierte Zick-Zack-Straßen-System der Londoner Innenstadt, einen sich vergrößernden Hippocampus aufweist.
Es scheint gar nicht so einfach zu sein, herauszufinden, welche Teile des jeweiligen Gehirns wie reagieren und die Erinnerung einer Route konstruieren. Und die zur Einprägung von Routen funktioniert je nach Verkehrsteilnehmer anhand von unterschiedlicher Elemente und Wahrnehmungen des Verkehrs, wie uns die alltäglichen Formen von Missverständnissen und Auseinandersetzungen im Straßenverkehr immer wieder vor Augen führen.
Ist kognitive Passivität während des Reisens schlecht für die Fähigkeiten eine angemessene mentale Karte zu erstellen? Es scheint tatsächlich der Fall zu sein. Ist dies auch der Grund, warum ringförmige Stadtkarten und ringförmige Bahnnetze in den vergangenen Jahren wieder an Beliebtheit zugenommen haben? Oder stehen die Menschen einfach nur von Natur aus auf Kreise und Ringe? In jedem Fall helfen uns diese Studien glücklicherweise die Städte der Zukunft besser zu planen, Staus vorherzusagen, der Gewalt im Straßenverkehr vorzubeugen und die Zukunft der Navigation zu entwickeln, die vielleicht auch „nur 25 Minuten entfernt ist”.