Was wurde eigentlich aus Videotheken?

ALLE FOTOS: STEFANIE KATZINGER

Nennt es ruhig den verklärten Blick der Nostalgie. Aber für mich strahlen die mittlerweile meist abgeranzten und sonnenverblichenen Reklameschilder der Videotheken noch immer etwas Magisches aus. Eine Magie, mit der die schwarz-rote Netflix-Startseite schlicht nicht mithalten kann. Trotzdem: Der Streamingdienst bietet mir alles, was ich für einen verkaterten Film-Sonntag brauche, ohne auch nur einmal aufstehen zu müssen. Wer sich 2004 mit brauchbarem Filmmaterial versorgen wollte, musste noch raus. Raus aus der Wohnung. Raus aus der WG. Raus aus dem Haus. Und das ganze auch noch angezogen.

Filme auszuborgen verlangt nämlich Vorbereitung und ist eigentlich ein ähnliches Ritual wie der Gang ins Kino. Das Ausleihen an sich ist im Prinzip ja schon eine Aktivität für sich. Wer dieser Aktivität heute frönen möchte, muss allerdings weitere Wege gehen als noch vor 13 Jahren. “2004 gab es in Wien 140 Videotheken, 2014 waren es weniger als 50. Fast täglich sperrt ein Betrieb zu”, sagt der ehemalige Branchensprecher der Wiener Wirtschaftskammer, Leopold Homola gegenüber dem Kurier. Heute sind es nicht einmal mehr 15, wie der ORF vor ein paar Wochen berichtete.

Videos by VICE

Ja, Netflix ist vielleicht praktisch, aber Videotheken sind ein Lebensgefühl. Videotheken erinnern mich an meinen allerersten Horrorfilm, verstohlene Blicke in die Sexabteilung, vorsichtiges Händchenhalten auf der elterlichen Couch und erste Küsse, die nach trockenem Popcorn schmecken. Überhaupt riecht und schmeckt die ganze Zeit in meiner Erinnerung irgendwie nach Paco Rabanne und dem roten Airwaves-Kaugummi.

Ich kann mich auch noch erinnern, wie mein Papa in Kombi mit dem ersten Flatscreen, unseren ersten DVD-Player besorgte. Es war eine Offenbarung. Johnny Depp war nie schöner. Ich gebe also mit den Videotheken Schuld daran, dass ich später auf der Maturareise dann mit einem als Pirat verkleideten Mittdreißiger geschmust habe. 

Aber es stimmt schon. Das Konzept “Videothek” will so gar nicht mehr in die heutige Zeit passen, die für mich mittlerweile ein bisschen dezenter nach dem grünen Orbit und meinem neuen Lieblingswaschmittel riecht; eine Zeit, in der man es oft schon bereut, überhaupt Essen bestellt zu haben, weil man sich dafür zumindest eine Unterhose anziehen sollte. Der sonntägliche Gang zur Videothek – so richtig mit Schuhen, Jacke und im besten Fall sogar mit geputzten Zähnen – scheint da fast zu viel verlangt. 

Wir wollen nach Jahren der Abstinenz aber trotzdem wieder ein bisschen etwas von diesem Gefühl zurück und begeben uns auf die Suche nach den verblichenen Reklameschildern mit dem Namen Videothek drauf – und heute darf ich sogar in die Sexabteilung. Ganz legal.

Austria Video Ring

Taborstraße 75A, 1020 Wien

Die erste Station auf unserer Reise durch die Wiener Videolandschaft bringt uns in den zweiten Gemeindebezirk in die Taborstraße. Dort befindet sich eine der nur noch spärlich gesäten Filialen des Austria Video Rings. Eigentlich muss ich nicht mehr sagen, JEDER kennt den Austria Video Ring, die Nummer 1 unter den österreichischen DVD-Dealern, der es damals, als es der Branche noch richtig gut ging, selbst in das kleinste Kaff schaffte. 

Es sieht hier noch genauso aus wie damals – grelle Neonröhren lassen die Kundschaft blass und krank erscheinen und zeigen gnadenlos, dass die besten Zeiten des Ladens schon lange vorbei sind. Es riecht hier übrigens auch gleich wie in meiner Erinnerung. Der Dreck der letzten Jahre scheint sich hartnäckig im blauen Teppichboden festgesetzt zu haben. Alles pickt und die Luft ist stickig – ich fühle mich angekommen.

Mittlerweile seien es eher die Spiele, weswegen die Leute zu ihr ins Geschäft kommen, sagt mir die Geschäftsführerin Gülsen Türkeli, die den Laden vor einem knappen Jahr übernommen hat. Ob die Leute wirklich noch in die Videothek kommen, um Pornos auszuleihen frage ich sie. “Absolut. Wobei mittlerweile eher gekauft als geliehen wird. Manche Kunden bringen mir auch Sexfilme vorbei und wir machen einen Tauschhandel.” 

Ich frage mich, ob ich den Satz wirklich richtig verstanden habe. Habe ich. Dieses Konzept verstehe ich jetzt nicht wirklich, muss ich aber auch nicht. Die romantische Videothek-Fassade beginnt allerdings ganz leicht zu bröckeln.

Um die 50 Filme werden nach wie vor pro Tag ausgeborgt. Damit lässt es sich noch überleben. Dass sie diesen Job nicht bis zu ihrer Pension machen wird, ist ihr aber völlig klar, sagt Gülsen Türkeli mit einem unbeschwerten Lächeln.

Happy Family

Gentzgasse 17, 1180 Wien


Ganz anders ist die Stimmung, als wir einen kleinen Laden im 18. betreten. Es fühlt sich an, als würde unsere kleine Zeitreise erst jetzt wirklich beginnen. Es empfängt uns Frau Stadler, die in ihrem blauen Kostümchen und den großen Ohrringen viel eher als Dame von altem Adel durchgehen würde. Seit 33 Jahren betreibt sie nun schon ihre Videothek und hat sowohl die Hochzeiten des Geschäfts als auch den Absturz miterlebt.

Das Loslassen fällt allerdings schwer. “Ich brauche meine Kunden, ich kann doch nicht allein in der Wohnung sitzen, das schaff ich nicht.” Sie bezeichnet ihren Job mittlerweile als sehr teures Hobby. Um das unausweichliche Schließen noch ein bisschen hinauszuzögern, möchte sie sich einen Nebenjob suchen. Ihren Mitarbeitern musste sie schon vor Längerem kündigen.

Sie hat sich jeden Film, der bei ihr aufliegt, selbst angesehen. Nur bei den Neueren halte sie manchmal nicht bis zum Ende durch, verrät sie mir. Ihre Lieblingskomödie ist Grasgeflüster, ansonsten liebt sie die alten Klassiker und freut sich, wenn sich auch Jüngere für die Schwarz-Weiß-Streifen interessieren.

Hinter schweren Vorhängen hat auch sie eine Pornoabteilung – reinlassen will sie uns aber nicht. Jetzt fühle ich mich wieder wie früher. Ich sags ja. “Es weiß doch jeder, was sich dahinter verbirgt. Die Sexfilme gehören dazu, das muss man aber nicht unbedingt zeigen.” Einer feinen Dame widerspricht man nicht. Auch dann nicht, wenn sie erzählt, dass sie den Streamingdiensten nicht die Schuld am stetigen Rückgang der Einnahmen geben will. Viel eher sei es der Fußball, den ja mittlerweile selbst die Frauen regelmäßig schauen würden.

Trotzdem. Frau Stadler und ihre Videothek bleiben. Bis zum bitteren Ende.

Filmgalerie 8 1/2

Garnisongasse 7, 1090 Wien


Ein etwas anderes Konzept verfolgt Alexander Lustig von der Filmgalerie 8 1/2. Dabei ist er aber minimum genauso überzeugt und enthusiastisch wie Frau Stadler. Er bezeichnet seinen Laden als Delikatessen-Videothek und tatsächlich: es wirkt, als befände man sich gerade in der Feinkostabteilung irgendeines fancy Concept-Stores im Siebensternviertel.

Hier wird nichts dem Zufall überlassen – die Filme sind nicht klassisch nach dem Alphabet, sondern nach Ära und Regisseuren geordnet. Auch nach Ländern wird unterteilt. Man fühlt sich hier sofort aufgehoben. Das Einzige, was man hier vermisst, ist die ansonsten immer leicht schmuddelige Videotheken-Atmosphäre.

Schnell wird klar, warum dieses Geschäft die Zeit bis jetzt überdauert hat: Hier ist ein echter Cineast am Werk, der weiß, wie es geht. Sein Wissen mit dem eines Netflix-Algorithmus nur ansatzweise zu vergleichen wäre vermutlich Blasphemie. Nur in Ausnahmefällen muss er seinen Computer zurate ziehen. Dafür schätzen ihn seine Kunden.

Auch Herr Lustig bezeichnet interessanterweise den Fußball und vor allem die EM 2008 in Österreich als entscheidenden Untergangsfaktor der klassischen Videotheken. “Die Leute rüsteten alle irrsinnig auf, was Technologie angeht. Ich glaube, dass da viele dann nicht mehr zur Videotheken-Welt zurückgegangen sind.”

Mit seiner Delikatessen-Videothek kommt der Besitzer zwar durch, aber auch er muss am Limit arbeiten. Solange aber Menschen kommen und sich von seinem Enthusiasmus mitreißen lassen, lohnt sich für Alexander Lustig sein Verzicht finanzieller Natur. Er sieht in seinem Geschäft eine Art cineastischen Bildungsauftrag und hofft auf Sponsoring. Das Filmangebot von Netflix findet der Meister selbst übrigens schlecht.

Pickwick’s

Marc-Aurel-Straße 10-12, 1010 Wien


Ganz anders macht es das Pickwick’s, das viel mehr ein Pub Schrägstrich ein Café Schrägstrich eine Bücherei Schrägstrich eine englischsprachige Videothek in sich vereint. Das Pub hat einen Weg gefunden, die klassische Videothek in die neue Zeit zu bringen.

Man kann sich zu seinem Bier einen Film für den eigenen Laptop ausleihen, neben Büchern auch in der gar nicht mal so kleinen englischen Filmsammlung stöbern, oder sich nach seinem Nachmittagskaffee gleich noch den Streifen für den Abend mit nach Hause nehmen. Die Videothek versteht sich hier viel mehr als Add-On, das seinen Platz gefunden hat.


Nach den Gesprächen wird mir vor allen Dingen bewusst, dass die Betreiber es mittlerweile viel mehr als ihre Pflicht sehen, die Videothek-Kultur vorm Untergang zu bewahren. Außerdem scheint sie ihre Stammkundschaft fast mehr zu brauchen als die Videothekare sie. “Wem soll ich denn meine Sorgen erzählen, wenn Sie nicht mehr sind?”, hat Frau Stadler erst vor kurzem wieder von einer Kundin gehört.

Und ein bisschen versteh ich das Mädchen. Die Prä-Streamingdienst-Ära war und ist eine persönlichere, eine, bei der man sich aus seiner Komfortzone bewegen muss – hin zum Videothekar seines Vertrauens. Abschließend kann ich sagen, dass sich seit meinem letzten Videothekbesuch nur wenig geändert hat, selbst das Gefühl ist noch das gleiche; nur der Zahn der Zeit nagt unaufhörlich. Umso schöner, dass es nach wie vor Menschen wie Frau Stadler und Herrn Lustig gibt, die sich davon nicht abschrecken lassen.

Cry Baby mit Johnny Depp, den ich seit nunmehr 6 Jahren zurückbringen sollte, habe ich übrigens wieder zu Hause vergessen.

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