Westbam macht Schluss: Ausstieg bei Mayday

„Eine Mayday ohne Westbam”, war am Wochenende auf Facebook zu lesen, „ist keine Mayday.” Zu diesem Zeitpunkt waren es nur Spekulationen, jetzt ist es Gewissheit: der Mayday-Erfinder und -Mitbegründer Westbam und die Event-Agentur I-Motion GmbH, die seit November 2006 als Veranstalter auftritt, gehen zukünftig getrennte Wege—Westbam steigt aus.

Zum Hintergrund seines Rückzugs von Mayday und allen angeschlossenen Veranstaltungen sowie dem Musikprojekt „Members of Mayday” äußerte sich Westbam heute in einer Stellungnahme, die Noisey exklusiv vorliegt. Die menschliche und künstlerische Entfremdung habe in den vergangenen Jahren immer stärker zugenommen. Mit der Übernahme von I-Motion durch das börsennotierte Unternehmen SFX Entertainment sei ihm „die Sache nicht sympathischer” geworden. I-Motion wurde im Oktober 2012 zu 60% für 12 Millionen US-Dollar seitens SFX Entertainment aufgekauft, davon wurden 8 Millionen in bar, 4 Millionen in Aktienanteilen gezahlt.

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„Dass der amerikanische Konzern für irgendwelche Werte eintritt oder gar eine größere Sensibilität für Mayday bzw. die europäische Technokultur mitbringt als I-Motion”, schreibt Westbam, „ist nicht zu erwarten.” Daneben äußert der DJ, Musiker, Labelinhaber und Autor Bedenken an der generellen musikalischen Ausrichtung der Veranstaltungen sowie der visuellen Gestaltung und kritisiert fehlendes Gespür bei der internationalen Vermarktung: „Als einen Tiefpunkt empfand ich das Motto ‚Made In Germany’. (…) In Polen fällt Mayday jedes Jahr auf den polnischen Unabhängigkeitstag. Mayday findet in Katowice nur wenige Kilometer entfernt von den Ruinen des Vernichtungslagers Auschwitz statt.” Der Veranstaltungsslogan sei im Ausland missverständlich, Westbam empfindet ihn als „großkotzig und unangemessen”.

das ausführliche Westbam-Interview mit Noisey

„Members of Mayday” und WESTBAM steigen bei MAYDAY aus!

Hiermit gebe ich meinen Rücktritt von allen Mayday Veranstaltungen bekannt. Dies gilt für meine Beteiligung als DJ und auch für das Projekt „Members of Mayday”.

Grund ist meine über die letzten Jahre immer tiefer werdende menschliche und künstlerische Entfremdung mit den jetzigen Betreibern von Mayday, der Firma

I-Motion und der Veranstaltung Mayday selbst. Oder besser: Mit dem, was I-Motion aus Mayday gemacht hat.

Seit meine Partner (Low Spirit und Frontpage) und ich 1991 Mayday gegründet haben, habe ich als einziger Künstler an allen ca. 60 Mayday-Events teilgenommen, die es bis heute in Deutschland, Polen, Russland, Weißrussland, Ungarn, Spanien, Mexiko, Belgien gab. Zusammen mit meinem Projekt „Members of Mayday” stand ich, auch in den Jahren, als das Event nicht mehr von meiner eigenen Firma veranstaltet wurde, sondern von I-Motion übernommen worden war, für eine fortlaufende Linie, die das Event von den frühen Jahren der Techno/House/Rave Kultur bis in die Jetztzeit verband.

In den letzten Jahren hatte ich zunehmend das Gefühl, dass diese Tradition von I-Motion weder besonders geachtet wird, noch dass man sich bemüht, etwas von dieser Tradition fortzuführen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Präsenz und das Weiterführen des „Members of Mayday”-Projektes der Firma I-Motion vor allem dazu dient, den Anschein zu wahren, dass die originale Mayday-Idee noch weiterlebt—weil man geschäftliche Nachteile befürchtete, wenn deutlicher zu Tage träte, was in Wahrheit los ist.

Mir kam die Rolle zu, ein Alibi zu liefern. Ich habe keine Lust mehr, diese Alibirolle zu spielen.

Dass I-Motion nun die Mehrheit ihrer Geschäftsanteile an Mayday an einen amerikanischen Konzern verkauft hat, wie in der Presse zu lesen war, macht mir die Sache nicht sympathischer. Denn: dass der amerikanische Konzern für irgendwelche Werte eintritt oder gar eine größere Sensibilität für Mayday bzw. die europäische Technokultur mitbringt als I-Motion, ist nicht zu erwarten.

Jetzt, zum Abschluss, möchte ich meine Kritik an I-Motion und ihrer Mayday Politik noch einmal konkretisieren. Nicht um nachzutreten, sondern weil es das Letzte ist, was ich für ein Event tun kann, der viel für Technokultur getan—und in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hat.

Musikpolitik

Ich hatte aber bei Weitergabe von Mayday an I-Motion gehofft, dass neben dem Trademark und der Mayday-Rakete auch etwas von der Mayday-Idee, nämlich: das Neueste von „House und Techno“ an einem Abend aufeinander prallen zu lassen, übrig bleibt. Stattdessen wurden die Hallen nach dem Nature One-Prinzip „flurbereinigt”. Was mehr oder weniger hieß:

Halle 1: Trance (Großraumdisco-kompatibler „melodiöser“ Sound)

Halle 2: Schranz (harter, perkussiver Techno)

Da die meisten Neuerungen im Land der elektronischen Tanzmusik der letzten zehn Jahre aber weder in das eine, noch das andere Format passten, fanden diese Neuerungen, für die die Veranstaltung mal gegründet worden war und die den Kern der Mayday-Idee ausgemacht haben, einfach nicht mehr statt.

Stattdessen schien das ewige Motto zu sein: „Augen zu und weiter so.” Als Ergänzung des formatierten Musikkonzepts der Hallen 1 und 2 wurden noch zwei weitere Formate hinzuaddiert: eine Hardcorehölle und eine Classicshalle. Was sicherlich eine „Weiterentwicklung” im Sinne einer perfekten Technoabfütterungsmaschine darstellt, aber bestimmt keine Weitentwicklung im Sinne von: neuen Platz für musikalische Innovation zu schaffen. Und die Mayday-Tradition heißt: „Forward Ever, Backward Never!”

Artwork

Ich möchte kurz daran erinnern, dass es zu unserer Zeit sogar geglückt ist, weltbekannte Künstler wie Andreas Gursky für ein Layout mit ins Boot zu holen. Wenn ich das mit den heutigen Layouts vergleiche, ist das nicht eine Frage von unterschiedlichem Geschmack, sondern von objektiv gesunkenem Niveau.

Mottos

Bei den Mottos war das ein oder andere, das man wohl ok, allemal lustig finden könnte (z.B. das Clint-Eastwood-Zitat „Make My Day“). Aber vieles klang auch hier uninspiriert und nach „Dienst nach Vorschrift“. Als einen Tiefpunkt empfand ich das Motto „Made In Germany“. Ich habe Technokultur im Allgemeinen und Mayday im Speziellen auch immer im Auftrag von Völkerfreundschaft gesehen. Wenn man bedenkt, dass Mayday in Russland jahrelang mit den Feierlichkeiten zum Ende des zweiten Weltkriegs zusammenfiel, war dieser Rahmen für eine Veranstaltung aus Deutschland eine große Ehre. Man sollte sich diesen Zusammenhangs bewusst sein und sich dessen würdig zeigen.

In Polen fällt Mayday jedes Jahr auf den polnischen Unabhängigkeitstag. Mayday findet in Katowice nur wenige Kilometer entfernt von den Ruinen des Vernichtungslagers Auschwitz statt. Wie wirkt es, wenn man dort mit „Made in Germany daherkommt? Ich empfinde es als großkotzig und unangemessen.

Rebels of Mayday

Ich höre gerade, dass das neue Mayday-Plakat im Moment schon verbreitet wird und dass es statt der „Members of Mayday” nun „Rebels of Mayday” ankündigt. Ich denke, dieser Notfallplan lag schon etwas länger in der Schublade des Zentralbüros von I-Motion. „Die Rebels”, wer immer sie sind, werden die Hymnen schreiben als Auftragsarbeit für einen Veranstalter und eine Veranstaltung, die mit „Rebellion” gar nichts zu tun hat.

Tut mir einen Gefallen: Vergreift euch nicht an der Musik der „Members of Mayday”!

Jeder Abschied ist auch ein Neubeginn.

Mit allem, was in den letzten Jahren aus dieser Party geworden ist, ist auch bei mir wieder ein Wunsch geweckt worden, mich in ein neues Projekt einzubringen. Mit alten und neuen Freunden arbeiten wir an der Idee eines neuen Raves, der wieder interessant ist für alle, die aus genannten Gründen schon lange nicht mehr zu Mayday gehen.

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Peace Out. Westbam

Fotos: © Christoph Voy / VICE

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