Gründe, warum Wien die beschissenste Stadt der Welt ist

Foto von Stefanie Katzinger

Ich weiß, ich weiß: Wien hat die höchste Lebensqualität der Welt und Japaner opfern für einen Urlaub bei uns gerne die Einkünfte ihres Drittjobs oder ihr schwächstes Kind. Überhaupt ist Wien ein Paradies und wenn es einem hier nicht passt, kann man jederzeit woanders hinziehen. Das ist grundsätzlich natürlich richtig und trifft, mit leichten Unterschieden, auf fast jede Stadt zu. Aber hier liegt auch schon das Hauptproblem: Denn wer mit Vernunft argumentiert, hat die Seele von Wien und die Mentalität seiner Bewohner bereits grundlegend missverstanden. Und das ist nur einer von vielen Gründen, weshalb unsere Heimatstadt das Prädikat „der größte Scheiß” verdient hat:

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Die Angst vor Stillstand und Veränderung

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Unser großer Franz Grillparzer hat einmal gesagt: „Es muss was geschehen, aber es darf nix passieren.” Kaum ein anderer Satz hat die Gemütslage unseres Landes, die sich praktischerweise seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr geändert hat, besser beschrieben. Wiener haben gleichzeitig panische Angst vor Veränderung, aber auch einen wahnsinnigen Drang, über den Status quo zu jammern. Deshalb haben wir auf der einen Seite seit 1945 ausschließlich sozialdemokratische Bürgermeister und trotzdem eine starke Rechte, die in einer der sichersten Städte der Welt mit „Wien darf nicht Chicago werden” und „Daham statt Islam” punkten konnte. Dass es bei uns zirka eine Schießerei alle zwei Jahre gibt (bei der zirka eine Kugel in der Ottakringer Straße abgefeuert wird) und sonst nur maximal irgendwo ein Mistkübel umgeworfen wird, ist scheinbar Anlass genug für rechte Wählermobilisierung. Das einzige andere Zitat, das halbwegs an Grillparzer ran kommt, ist Herbert Prohaskas zeitgeschichtlich neueres „San a poa Hurenkinder dabei“. Das lässt sich praktischerweise auf alle anwenden, von den Politikern bis zum durschnittlichen Idioten, der es nicht schafft, die Leute in der U-Bahn aussteigen zu lassen, bevor er sich durch die Tür presst.

Der Hipsterhass

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Ja, ich gebe es zu, es ist verdammt nervig, wenn man 2 Stunden auf seinen Habern-Burger wartet, weil 1000 andere Menschen auch einen haben wollen. Aber macht das den Burger schlechter? Auf keinen Fall. Trotzdem finden die Menschen dieser Stadt alles sofort scheiße, sobald mehr als ein kleiner ausgewählter Zirkel an Menschen irgendwo auftaucht. Das war damals bei den Angewandten-Partys so, die plötzlich „nicht mehr so cool wie früher waren”, das ging weiter, als sich alle über das Fox House aufgeregt haben und das sieht man am allerbesten am Beispiel von Tanz durch den Techno-Sonntag. Wenn das so uncool ist, warum rennt ihr dann trotzdem alle hin? Nehmt euch ein Beispiel an echten Großstädten und arbeitet gefälligst zusammen, damit alle eine gute Zeit (anstatt geteiltem Leid) haben.

Die Radfahrer

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Wien ist eine weltoffene Stadt, wie die Mariahilfer Straßen-Volksbefragung wieder gezeigt hat, bei der nur Caffe Latte trinkende Radfahrer zwischen 21 und 35  mitmachen durften. Aber weltoffen sein hat auch etwas Gefährliches. Nicht etwa, weil die rot-grüne Stadtregierung auf Grund von zu viel Laissez faire der organisierten Kriminalität Tür und Tor geöffnet hat, sondern weil hier die rücksichtslosesten Radfahrer der Welt unterwegs sind. Sicher, das behaupten wahrscheinlich auch einige andere Städte von sich. Aber wir können ohne weiteres Nachdenken ad hoc mindestens zehn Fälle nennen, wo Radfahrer zwei Verkehrs- und 18 Anstandsregeln gebrochen haben, während sie mit 30 km/h einem Fußgänger im Vorbeifahren die Zehennägel und Nasenspitzen abrasiert und trotzdem vom Sattel aus noch so Dinge geschrien haben wie „HEAST, GSCHISSENER, WOS IS MIT DIR???”. Jedenfalls sind die meisten Wiener Radfahrer Kamikaze-Geschosse und wir hassen sie. Und das sagen wir als Fußgänger, die den Führerschein nur aus Erzählungen kennen! Gerüchten zufolge sollen Autofahrer diejenigen sein, denen Fahrradfahrer noch mehr am Oarsch gehen.

Die Öffnungszeiten

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Einer meiner Lieblingsorte ist der BILLA am Franz-Josefs-Bahnhof—und zwar sonntags zwischen 8:00 und 22:00 Uhr. Wenn es in Wien einen Ort gibt, wo man sich sonntags wie in einer Großstadt fühlt, dann ist es dieser. Während sonst ab einer Schlange von 4 Leuten „Zweiteee Kassaaa bitteeeee!” geschrien wird, sind die Menschen hier fast schon buddhistisch entspannt, obwohl man schon beim Betreten über drei Punks, zehn Obdachlose und einen ziemlich geruchsintensiven Teppich aus Taubenkot und Kotze steigen muss. Das liegt daran, dass Wien am Sonntag komplett ausgehungert ist. Überall außerhalb dieses Supermarkts (und dem zweiten am Praterstern) schließen die Geschäfte wochentags immer noch um Punkt 19:30 Uhr die Tore—samstags sogar um 18:00 Uhr—, während sie am Sonntag aus katholischer Demut gleich ganz geschlossen bleiben. Wer es wagt, darauf hinzuweisen, dass es in anderen Großstädten so etwas wie „Spätis” gibt, bekommt als Antwort „Piefke” und einen Hinweis darauf, dass man gefälligst wie alle anderen zwischen 19:20 und 19:30 Uhr um das letzte Stück Brot kämpfen kann, wie das schon unsere Großeltern getan haben.

Die Uni Wien

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Sicher, die Universität Wien ist die älteste im deutschsprachigen Raum, das Gebäude am Ring ist ein Prachtbau und nirgendwo sonst in Wien findest du so viele sexy Geschöpfe wie unter den hier Studierenden. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Magnet für deutsche „Numerus Clausus-Flüchtlinge” und ein furchtbares, aus allen Nähten platzendes Monstrum, das sich auf der Rangleiter der weltbesten Unis beständig nach unten frisst und dabei Unsummen (sowie Träume und Hoffnungen) verschluckt. Hier die Fakten: Der gigantische Koloss wird mit einem Gesamtbudget von 522 Millionen Euro pro Jahr finanziert, was im Vergleich zur viel kleineren Ludwig-Maximilians-Universität München mit ihren 488,6 Millionen Euro ein ziemlicher Scheiß ist. Die Uni Wien hat nur 33,4 Millionen mehr als die LMU—aber knapp doppelt so viele Studierende. Das erklärt vermutlich auch die Tatsache, dass die Uni Wien im Times-Higher-Education-Ranking letztes Jahr auf Rang 170 landete. Wir alle lieben die Uni Wien für ihren freien Bildungszugang in vielen Fächern, aber die Knappheit der Gelder gerade in den Kultur- und Geisteswissenschaften ist richtig beschissen. Das weiß jeder Student, der schon mal auf dem Gang vor einem Seminarraum außer Hörweite saß, nur um sich auf der Anwesenheitsliste einzutragen. Es gibt bestimmt auch fortschrittliche Institute, intime Lehrveranstaltungen und engagierte Dozenten an der Uni Wien. Leider muss man dafür aber Judaistik oder Vergleichende Literaturwissenschaften studieren, was sich irgendwann später im Leben mit einer ausgeprägten Alkoholabhängigkeit rächen wird.

Dieser Abschnitt ist übrigens kein Plädoyer für Studiengebühren.

Die Stillosigkeit

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Vielleicht habt ihr von den schicken Boutiquen in Wien Neubau gehört oder wart selbst schon mal in einem der Flagship Stores im 1. Bezirk einkaufen, in denen die Bediensteten dafür bezahlt werden, sich so zu verhalten, als wären sie Vertreter einer Herrenrasse und ihr nur Würmer, die man seinem Schoßhund aus dem Darm entfernen lässt. Tatsächlich gibt es bei uns eine ziemlich erstaunliche Dichte an Geschäften, die nahelegen würde, dass in Wien alle i-D lesen und sich komplett bei Hendrik Vibskov einkleiden. Solche Leute gibt es natürlich—nur sind das meistens skandinavische Touristen. Ansonsten ist Wien ein Loch aus absoluter Stillosigkeit. Coole Shops helfen dabei gar nichts, weil die Leute ihren Geschmack leider nicht an ihre Geldbörse delegieren können. Der gemeine Wiener zeichnet sich dadurch aus, dass er auch bei den besten Brands zielsicher das stilistisch verbrecherischste Einzelstück findet und mit 10 Jahre alten, dunkelweißen Asics kombiniert („Die sind noch gut, damit bin ich nur drei Jahre gelaufen!”). Außerdem gilt es immer noch als cool, sich wie eine Alternative Rockband der 90er oder—noch schlimmer—eine Gruppe der Hamburger Schule anzuziehen. Das sagt euch eigentlich alles, was ihr über Mode hier wissen müsst.

Die Unfreundlichkeit

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Am schlimmsten steht es um die Umgangsformen der Wiener dort, wo sie sich am wohlsten fühlen—in den traditionellen Wiener Caféhäusern, den wichtigsten, nicht von der UNESCO geschützten Kulturheiligtümern der Stadt. Der typische Oberkellner hier trägt Fliege, Smoking und die Nase oben, während er so bedient, als wäre der Job Teil seiner Bewährungsauflagen und als würde er sich auf seinem Block Notizen für einen Thomas Bernhard-artigen Hass-Roman machen. Wenn ihr jemanden auf diese morbide Unfreundlichkeit ansprecht, wird die Antwort ziemlich sicher so aussehen: „Hahaha, blablabla, Mentalität.” Diese Ausrede ist genauso fake wie die Mozarts, die euch vorm Stephansdom Tickets für die Spanische Hofreitschule andrehen wollen—und genauso fake wie die Caféhäuser selbst, die längst nur mehr Disney-Nachbauten der Originale sind (siehe Griensteidl und Central). Was euch hier als charmante Erlebnisgastronomie verkauft wird, sind einfach nur beschissene Manieren—mit dem Unterschied, dass sich Wiener mit einem „Besser ehrlich unfreundlich, als gekünstelt nett” rausreden. Das mag sein, aber Unhöflichkeit ist nicht automatisch authentisch. Außerdem sorgt genau diese Einstellung dafür, dass in dieser Stadt niemals irgendwer nett zu jemand anderem sein wird und am Ende immer die misanthropischen Arschlöcher gewinnen.

Für die Wiener werde ich immer der „Gscherte” bleiben

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Zum Abschluss habe ich mir einen Kniff aus M. Night Shyamalans Trickkiste geborgt. Ich bin nämlich eigentlich gar kein Wiener. Das heißt: meiner Definition nach schon, da ich bereits vor 13 Jahren aus Linz hierher gezogen bin und ganz offiziell meinen Hauptwohnsitz hier habe, aber nicht in den Augen der alteingesessenen Drawlischeks und Wondraceks und Dolmdaschls dieser Stadt. Natürlich bin ich nicht der einzige, dem es so geht. Fast jeder, den ich kenne, ist zum Studieren in die Stadt gezogen und danach einfach geblieben, weil die Alternative die Rückkehr in genau jene Provinznester war, die man aus der Wiener Distanz zum ersten Mal als ebensolche erkannte. Gleichzeitig konnte man diese neu erworbene Erkenntnis nirgends praktisch einsetzen, ohne sich in Wien als Provinzdepp und in seiner Heimat als abgehobener Hauptstädter zu outen. Seit zwei Jahren habe ich jetzt eine Beziehung mit einer echten Wienerin. Seither habe ich gelernt, dass es das Wort „nachhause” hier nicht gibt („Ich fahr jetzt zuhaus.”), dass „einstecken” niemals konjugiert wird („Hast du ein Taschentuch einstecken?”) und man sehr viel Wert darauf legt, in jedem Satz das „noch” zu betonen („Den Film hab ich NOCH nicht gesehen.”). Im Übrigen ist Wien so etwas wie der erste Schritt raus aus der Provinz und rauf auf die Psycho-Couch, wo man sich langsam die eigene Minderwertigkeitskomplex behaftete österreichische Seele aus dem Leib exerziert. Auf jeden Fall ist das der Ausgangspunkt für diesen Text—und der Grund, warum wir alle immer noch hier sind.

Markus auf Twitter: @wurstzombie