„Mike hat nicht erwartet, dass Leute seine Message so missverstehen“—Judge im Interview

Ende der Achtziger hatte sich in den USA innerhalb von wenigen Jahren aus der positiven Youth Crew-Szene eine Bewegung entwickelt, die nicht nur am liebsten jedes McDonald’s von der West- bis zur Ostküste in die Luft gejagt hätte, sondern dir auch die Nase gebrochen hat, wenn du in ihrer Gegenwart ein Bier getrunken hast. Protagonist dieser Straight Edge-Radikalisierung war eine Band, die sich als Gegenentwurf zur positiven Mentalität von Gruppen wie Youth Of Today gegründet hatte. Eine Band, die ihren Hass 1988 endlich auf Vinyl gepresst und eine Band, die der gesamten New Yorker Szene ins Gesicht gespuckt hatte: Judge. Doch schnell verlor man die Kontrolle über die Geister, die man rief. Was Gründer und Sänger Mike Ferraro dazu brachte, nicht nur die Band, sondern auch der kompletten Szene den Rücken zu kehren und einfach zu verschwinden. Eine der damaligen Schlüsselfiguren und Drummer von Judge war Sammy Siegler, der uns fast 20 Jahre nach Auflösung der Band Fragen über seinen Einstieg in die Szene, das mysteriöse Verschwinden von Mike und die Zukunft von Judge beantwortet.

Was hat dich damals in die Hardcore-Szene und insbesondere in die Straight Edge-Szene gebracht?
Sammy Siegler: Ursprünglich bin ich zur Musik gekommen, da mein Vater und mein Großvater Drummer waren. Ich bin dann relativ früh zum Punk gekommen und meine Schwester kannte da ein paar Jungs, die in einer Band gespielt haben, denen jedoch ein Drummer gefehlt hat. Ich konnte zwar noch nicht wirklich gut spielen, aber irgendwie hat das schon gepasst. Wir haben dann irgendwann mal ein Cover von Agnostic Fronts „Power“ gespielt und das war so mein erster Kontakt mit New York Hardcore. Von da an lief das dann wie ein Schneeball vor sich hin. Irgendwann hat mich ein Freund Walter von Gorilla Biscuits vorgestellt und die waren gerade auf der Suche nach einem Drummer. Das war 1985. Spätern habe ich dann diese Typen kennengelernt, die Straight Edge waren und irgendwie war das dann ein natürlicher Prozess. Ich habe das nicht geplant. Es ist einfach passiert, aber ich bin sehr dankbar dafür, dass es so passiert ist.

Bevor du zu Youth Of Today gekommen bist, war Mike Ferraro der Drummer in dieser Band. Wie kam es, dass du ihm irgendwann zu Judge gefolgt bist?
Unsere Szene damals war ziemlich inzestuös und wir waren alle untereinander Freunde. Auch diesmal war das wieder so eine natürliche Entwicklung. Mike hat Judge gegründet und auf der ersten Veröffentlichung die Drums noch selbst eingespielt. Als sie Shows spielten, halfen immer mal andere Typen aus und da ich sehr gut mit John „Porcell“ Porcelly befreundet war, habe ich dann auch irgendwann mal live ausgeholfen und so bin ich dann irgendwie zur Band gekommen.

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Gab es da keine Reibereien mit deiner alten Band?
Es gab bei solchen Sachen immer mal Drama, aber nicht, als ich zu Judge gekommen bin. Youth Of Today war in dieser Zeit eh schon im Begriff, sich aufzulösen, von daher gab es da keine großartigen Probleme.

Youth Of Today hatte viel mit einer positiven Einstellung zu tun, während Judge ein radikaler und militanter Gegenentwurf war. War dieser Gesinnungswechsel für dich persönlich schwierig?
Mike hatte Youth Of Today ja verlassen, um eben diese neue Sicht der Dinge zu bieten, dementsprechend war auch alles radikaler und mehr „Hardline“. Aber für mich war das kein Problem. Ich fand die neue Sichtweise irgendwie cool.

Und auf welcher Seite stehst du heute?
Irgendwie beides. Einerseits habe ich bisschen was von der positiven Einstellung, aber auch von der negativen. All die Erfahrungen in verschiedenen Bands haben mich da nicht nur als Musiker, sondern auch als Mensch geprägt.

Kurz vor eurer Auflösung habt ihr ein Konzert gespielt, auf dem Nazi-Skins einen Afroamerikaner verprügelt haben. Wie habt ihr euch damals gefühlt, als ihr gemerkt habt, dass eure Musik auch solche Menschen anzieht?
Das war richtig hart und am Ende war das auch der Grund, wieso sich Judge aufgelöst hat. Es gab noch mehr solcher Vorfälle und für Mike war das besonders hart. Er hat die Lyrics geschrieben und hat nicht erwartet, dass Leute seine Message so aufnehmen und missverstehen. Das war nicht cool, Mann. Und das war auch nicht, wer wir waren.

Mike hat dann die Band ziemlich plötzlich verlassen und war danach im Prinzip verschwunden. Wie war das für dich?
Bands haben sich immer aufgelöst und das war ganz normal. Ich war danach wieder Drummer bei Gorilla Biscuits und habe eigentlich immer irgendwie jeden meiner Freunde, auch aus anderen Bands, gesehen. Doch mit Mike war das anders, denn er war einfach weg. Wir waren zwar gute Freunde, aber hatten niemals diese ultra starke Bindung. Trotzdem war das komisch. Dann gab es ja auch diese ganzen Gerüchte, das war schon merkwürdig.

Es gab ja sogar das Gerücht, dass er einer deutschen Motorrad-Gang angehören würde und einen Polizisten getötet hätte. Hast du solche Gerüchte jemals geglaubt?
An dieses Gerücht habe ich nicht geglaubt, aber an andere. Die Hardcore- und Biker-Szene waren damals nicht so stark getrennt und so wäre das nicht so ungewöhnlich gewesen. Doch das Level an Gewalt, welches die Gerüchte Mike nachgesagt haben, hat mich nicht an diese Gerüchte glauben lassen. Mike ist zwar groß und ernst, aber er war nie ein sehr gewalttätiger Mensch, eher ein guter Typ.

Gab es nach eurer Auflösung Spannungen mit den restlichen Mitglieder?
Nicht wirklich, wir haben uns einfach alle unseren anderen Projekten gewidmet. Es war nur ein wenig bedrückend zu wissen, was wir hätten erreichen können. Ich denke aber, dass Mike die größten Probleme mit der Sache hatte, denn er hat sich komplett abgekapselt und dadurch auch viel verpasst. Wir waren auch nicht sauer auf ihn, es war nur alles irgendwie mysteriös.

In der Doku There Will Be Quiet – The Story Of Judge hattest du erwähnt, dass nach der Auflösung von Judge in der New Yorker Szene eine Art Vakuum herrschte. Wie kann man sich das vorstellen?
In dieser Zeit hatte sich nicht nur Judge aufgelöst. Youth Of Today hatte sich aufgelöst und Gorilla Biscuits haben ihre letzte Show gespielt. Irgendwas hatte da sein Ende gefunden. Klar, Hardcore hat mich danach weiterhin begleitet und es kamen danach unzählig viele gute Bands, aber diese spezielle Zeit war einfach vorbei. Ich weiß nicht einmal, ob das nur an Judge lag.

Was hat Judge so besonders gemacht, dass mit euch auch eine Ära untergegangen ist?
Damals gab es viele härtere Bands, aber in unserem positiven Youth Crew-Kosmos eher nicht. Judge hat einfach diese „pissed off“-Mentalität in das Youth Crew Movement gebracht und das war damals wirklich neu. Das hat viele Leute echt angesprochen und auch den Weg für andere härtere Bands wie Integrity geebnet. Im Prinzip war nur unsere Timing gut. Heute gibt es viele Bands, die angepisst und hart sind, damals eher nicht.

Du hast in unzähligen Bands gespielt, sogar einmal bei Limp Bizkit an den Drums ausgeholfen. War Judge dein Mangum Opus?
Judge war schon ziemlich außergewöhnlich, aber Youth Of Today war irgendwie unser Anker. Wir hatten diese Mission und die Zeit hat einfach perfekt gepasst, von daher wird für mich Youth Of Today immer DIE Band sein.

Was sagst du zur Entwicklung von Hardcore, nachdem ihr euch aufgelöst hattet?
Mir hat einiges nicht gepasst, aber so haben vermutlich auch Leute, die Anfang der 80er zur Szene gekommen sind, über uns gedacht. Als wir gespielt haben, sind wir meistens vor einem ziemlich diversen Publikum aufgetreten. Auf unseren Showas gab es Skins, Straight Edge-Kids, Punks und so weiter. Das ist danach irgendwie verlorengegangen und das fand ich irgendwie langweilig.

Heute stehen Bands Kommunikationsmittel wie Facebook, YouTube, Bandcamp etc. zur Verfügung, um ihre Songs zu verbreiten. Ist das ein Problem oder eine Chance für die Szene?
Es ist definitiv eine Chance. Kids in Süd-Amerika, Russland, Deutschland oder sonst wo können die Musik hören und das ist großartig. Die Zeiten ändern sich halt, aber eine 7 inch ist immer noch cool.

Kaufst du noch Vinyls?
Zur Zeit ist es ziemlich verrückt, besonders mit dem Streaming. Aber ich ziehe Vinyl definitiv dem Download vor, denn bei einer Mp3 bezahle ich zwar, habe aber nichts in der Hand. Ich versuche keine weiteren Vinyls zu kaufen, ich habe einfach zu viele und muss erst einmal das hören, was ich habe.

War es schwierig nach 20 Jahren Pause wieder zusammen auf die Bühne zu gehen und diese alten Songs zu spielen?

Sind die Songs nach all den Jahren denn noch relevant?
Klar. Sie haben immer noch eine Message, die auch heute noch wirkt. Die Lyrics in Hardcore sind oftmals zeitlos und passen irgendwie immer.

Könnt ihr euch vorstellen, auch neues Material aufzunehmen oder bleibt ihr bei dem alten Zeug?
Ehrlich gesagt haben wir gar keinen Plan. Sogar die Dokumentation war so nicht geplant. Erst wollten wir nur eine kurze zehnminütige Dokumentation drehen und am Ende haben wir dann eine ganze Stunde gefüllt. Wir haben überlegt, ob wir zum 20. Geburtstag unserer ersten Platte eine Sonderedition mit neuen Songs machen. Diese müssten dann aber richtig gut sein, denn sind sie das nicht, dann ist es einfach nur schlecht und das wollen wir nicht. Mal schauen, wir machen erst einmal einen Schritt nach dem anderen.

In der Zeit eurer Pause wurde Judge zur Legende, obwohl ihr damals maximal vor 150 Leuten gespielt hattet. Wart ihr nie besorgt, dass ihr die Erwartungen nicht erfüllen könnt?
Unsere erster Auftritt auf dem Black &Blue war ziemlich nervenaufreibend, aber das erste Feedback war extrem gut. Da waren 3.000 Leute und den Abend danach haben wir in der selben Location noch eine Show gespielt und wieder waren da 3.000 Leute. Wir haben gemerkt, dass wir ein gutes Comeback hingelegt hatten und dann wurden wir auch entspannter.

Was macht Judge in zehn Jahren? Touren?
Das kann gut möglich sein, ich meine, schau dir andere Bands an. Die Rolling Stones sind immer noch unterwegs und irgendwie ist alles möglich. So lange wir gut klingen, Kids uns hören wollen und wir dabei Spaß haben, werden wir sicherlich auch unterwegs sein.

Okay, die letzte Frage: Was ist für dich dieses „eine Album“?
Youth Of Today—Break Down The Walls.

Marcel ist auch bei Twitter—@tchnwsMarcel

Dates

12.08. Berlin – Lido

Vor dem Konzert gibt es ein Screening unseres Noisey-Films There Will Be Quiet – The Story Of Judge und einer darauffolgenden Fragerunde mit der Band.

13.08. Köln – Underground

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